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bildet. — Selbst wo es keine Standesrechte im
alten Sinne mehr gibt, sollte das aus der Natur
der Dinge von selbst immer wiederkehrende Zu-
sammengehörigkeitsgefühl der Angehörigen der
einzelnen (berechtigten) Stände gepflegt werden.
Infolge seines Wunsches nach Anerkennung will
der einzelne nicht nur in Familie, Gemeinde,
Staat, sondern besonders auch im Kreise seiner
Berufsgenossen anerkannt und geachtet sein; diese
wissen am besten, was ein tüchtiger Geistlicher,
Beamter, Soldat, Handwerker, Bauer usw. ist
und sein soll. So ist die Standes= oder Berufs-
ehre ein wichtiges Element der gesellschaftlichen
Gliederung. Sehr viele Menschen gelangen zu dem
für ihr moralisches Leben notwendigen Selbst= und
Ehrgefühl nur durch das Gefühl der Zugehörig-
keit zu einer Standesgruppe. Ferner ermöglichen
blühende Standesverbände im allgemeinen eine
vollkommenere Rechtsordnung: staatliche Gesetze
werden von Organen, die kein persönliches Inter-
esse an der Sache haben, durchgeführt, Korpora-
tionsvorschriften dagegen von den Mitgliedern,
deren jedes das lebhafteste Interesse daran hat, daß
es selbst durch ein ungehöriges Vorgehen seiner
Kollegen nicht geschädigt werde.
Der Entstehungsart nach gibt es gewill-
kürte und notwendige Gesellschaften, angeborene
und erkorene Zusammenhänge. Die zur Gesellung
nötige Willenseinung kann sich unabsichtlich bilden,
also auf überkommenen historischen Bedingungen
beruhen (natürliche Verwandtschaft, Geschlecht,
Volk). Sie kann absichtlich zustande kommen, sei
es durch Vereinbarung der Beteiligten, sei es
zwangsweise durch obrigkeitliche Anordnung. Als
Beispiele angeordneter Vereinigungen dienen die
vom Staate veranlaßten örtlichen oder beruflichen
Interessenvereinigungen. Als Beispiele notwen-
diger Gesellschaften dienen Menschheit, Familie,
Kirche, Staat. Die merschliche Gesellschaft steht
an der Spitze der Gesellschaften; aber auch Fa-
milie, Obrigkeit und Kirche gehören zu den not-
wendigen Gesellschaften. Denn die menschliche
Gesellschaft kann als dauernde nicht bestehen ohne
leibliche und geistige Nachfolge, ohne Aufrecht-
erhaltung und Durchführung der Rechtsordnung,
endlich nach unserer christlichen Uberzeugung auch
nicht ohne die Darbieterin der übernatürlichen
Ordnung, ohne die Heilsanstalt der Kirche.
2. Zur Gewinnung einer Übersicht über die
sachlich, nach ihrem Daseinszweck, aufzuführen-
den Arten von Gesellschaften empfiehlt es sich,
wirtschaftliche Verhältnisse und geistige Kultur aus-
einanderzuhalten. Die wirtschaftliche Tätig-
keit vollzieht sich zwar auf den von der vermögens-
rechtlichen Ordnung gegebenen Grundlagen, aber
im einzelnen zunächst unabhängig vom obersten
staatlichen Willen. Durch die überkommene wie
durch die fortdauernde Verteilung der Arbeit und
der Güter entstehen Schichtungen, Abhängigkeits-
verhältnisse und Zusammenhänge, die jetzt mit
Vorliebe soziale genannt werden. Art und Ver-
Gesellschaft usw.
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teilung des Vermögens gibt verschiedene
Lebensstellung. Eine förmliche Organisation der
verschiedenen Vermögensklassen als solcher ist frei-
lich selten vorhanden; in der Regel ist für die
Schichtung der Beruf entscheidend. Allein der
Einfluß der verschiedenen Besitzarten und Besitz-
größen macht sich auch ohne äußere Einrichtung
in einem Gefühl der Gemeinschaftlichkeit und einem
Bedürfnis gleichen Handelns geltend. Übrigens
sind die verfassungsmäßigen oder tatsächlichen
Rechtsvorzüge des Vermögens, wie Wahlsysteme,
Zensus, Geld-statt Freiheitsstrafen, Einfluß auf
öffentliche Meinung und Gesetzgebung und ähn-
liches, nicht unbedeutend, nur weniger beachtet.
Oft gehen die Besitzarten mit Geburtsständen und
Beschäftigungsarten Verbindungen ein. — Die
Bildung reiner Besitzverbände (z. B. Aktiengesell-
schaften) hat nicht unbedeutende Schattenseiten.
Was einer menschlichen Vereinigung den sittlichen
Wert gibt, das Zusammenwirken zu gemein-
samem Zweck und die so erreichte Erziehung zu
gemeinnütziger Tätigkeit, fehlt hier vollständig.
Jeder verfolgt nur den Erwerbszweck und kennt
oft seine Genossen nicht einmal (vgl. Wundt, Ethik
II (11902) 294).
Unter wirtschaftlichem Beruf versteht man die
Zugehörigkeit einer Person zu einem der Erwerbs-
zweige, in die sich das Erwerbsleben der Bevöl-
kerung teilt. Bei dem Ausdrucke Klassen pflegt
man weniger an Arbeitsverschiedenheit als an
Besitzgegensätze zu denken, und hier wieder nicht
so sehr an die Art, sondern an Größe und Klein-
heit des Besitzes, wodurch die Betreffenden ent-
weder zu ständiger Arbeit gezwungen oder der-
selben überhoben sind. Die von der modernen
Industrieentwicklung stark vermehrte besitzlose,
bloß auf die Arbeit angewiesene, also von der
Hand in den Mund lebende Klasse nennt die
neuere Sprache Proletariat. Den hierher Ge-
hörigen gehen materielle wie Bildungsgüter ver-
lustig und damit die Grundlagen einer gesellschaft-
lichen Stellung; sie sind aber vom Bewußtsein
einer Berechtigung hierauf erfüllt.
Die Interessengemeinschaft ist nicht nur durch
den gleichen Beruf, sondern auch durch die ent-
sprechende Stellung im Berufe bedingt: Groß-
grundbesitzer, Kleingrundbesitzer und Pächter zeigen
Unterschiede in ihren landwirtschaftlichen Inter-
essen. Ahnlich auf industriellem Gebiete. Es
gibt Arbeiter und Unternehmer umspannende Be-
rufsgenossenschaften und Vereinigungen nur der
Arbeiter: Gewerkschaften, Fachvereine, Fachver-
bände. Anderseits sind die Unternehmer bestrebt,
durch Kartelle die Produktion dem Bedarf an-
zupassen. Hierher gehören ferner die Meister= und
Gesellenvereine und die Arbeitervereine.
Die einem geistigen Interesse ihre Ent-
stehung verdankenden menschlichen Vereinigungen
hat man in solche geteilt, die sich vorwiegend an
die Verstandes-, und solche, die sich an die Willens-
tätigkeit wenden. Das Bildungswesen, in
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