Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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bildet. — Selbst wo es keine Standesrechte im 
alten Sinne mehr gibt, sollte das aus der Natur 
der Dinge von selbst immer wiederkehrende Zu- 
sammengehörigkeitsgefühl der Angehörigen der 
einzelnen (berechtigten) Stände gepflegt werden. 
Infolge seines Wunsches nach Anerkennung will 
der einzelne nicht nur in Familie, Gemeinde, 
Staat, sondern besonders auch im Kreise seiner 
Berufsgenossen anerkannt und geachtet sein; diese 
wissen am besten, was ein tüchtiger Geistlicher, 
Beamter, Soldat, Handwerker, Bauer usw. ist 
und sein soll. So ist die Standes= oder Berufs- 
ehre ein wichtiges Element der gesellschaftlichen 
Gliederung. Sehr viele Menschen gelangen zu dem 
für ihr moralisches Leben notwendigen Selbst= und 
Ehrgefühl nur durch das Gefühl der Zugehörig- 
keit zu einer Standesgruppe. Ferner ermöglichen 
blühende Standesverbände im allgemeinen eine 
vollkommenere Rechtsordnung: staatliche Gesetze 
werden von Organen, die kein persönliches Inter- 
esse an der Sache haben, durchgeführt, Korpora- 
tionsvorschriften dagegen von den Mitgliedern, 
deren jedes das lebhafteste Interesse daran hat, daß 
es selbst durch ein ungehöriges Vorgehen seiner 
Kollegen nicht geschädigt werde. 
Der Entstehungsart nach gibt es gewill- 
kürte und notwendige Gesellschaften, angeborene 
und erkorene Zusammenhänge. Die zur Gesellung 
nötige Willenseinung kann sich unabsichtlich bilden, 
also auf überkommenen historischen Bedingungen 
beruhen (natürliche Verwandtschaft, Geschlecht, 
Volk). Sie kann absichtlich zustande kommen, sei 
es durch Vereinbarung der Beteiligten, sei es 
zwangsweise durch obrigkeitliche Anordnung. Als 
Beispiele angeordneter Vereinigungen dienen die 
vom Staate veranlaßten örtlichen oder beruflichen 
Interessenvereinigungen. Als Beispiele notwen- 
diger Gesellschaften dienen Menschheit, Familie, 
Kirche, Staat. Die merschliche Gesellschaft steht 
an der Spitze der Gesellschaften; aber auch Fa- 
milie, Obrigkeit und Kirche gehören zu den not- 
wendigen Gesellschaften. Denn die menschliche 
Gesellschaft kann als dauernde nicht bestehen ohne 
leibliche und geistige Nachfolge, ohne Aufrecht- 
erhaltung und Durchführung der Rechtsordnung, 
endlich nach unserer christlichen Uberzeugung auch 
nicht ohne die Darbieterin der übernatürlichen 
Ordnung, ohne die Heilsanstalt der Kirche. 
2. Zur Gewinnung einer Übersicht über die 
sachlich, nach ihrem Daseinszweck, aufzuführen- 
den Arten von Gesellschaften empfiehlt es sich, 
wirtschaftliche Verhältnisse und geistige Kultur aus- 
einanderzuhalten. Die wirtschaftliche Tätig- 
keit vollzieht sich zwar auf den von der vermögens- 
rechtlichen Ordnung gegebenen Grundlagen, aber 
im einzelnen zunächst unabhängig vom obersten 
staatlichen Willen. Durch die überkommene wie 
durch die fortdauernde Verteilung der Arbeit und 
der Güter entstehen Schichtungen, Abhängigkeits- 
verhältnisse und Zusammenhänge, die jetzt mit 
Vorliebe soziale genannt werden. Art und Ver- 
Gesellschaft usw. 
  
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teilung des Vermögens gibt verschiedene 
Lebensstellung. Eine förmliche Organisation der 
verschiedenen Vermögensklassen als solcher ist frei- 
lich selten vorhanden; in der Regel ist für die 
Schichtung der Beruf entscheidend. Allein der 
Einfluß der verschiedenen Besitzarten und Besitz- 
größen macht sich auch ohne äußere Einrichtung 
in einem Gefühl der Gemeinschaftlichkeit und einem 
Bedürfnis gleichen Handelns geltend. Übrigens 
sind die verfassungsmäßigen oder tatsächlichen 
Rechtsvorzüge des Vermögens, wie Wahlsysteme, 
Zensus, Geld-statt Freiheitsstrafen, Einfluß auf 
öffentliche Meinung und Gesetzgebung und ähn- 
liches, nicht unbedeutend, nur weniger beachtet. 
Oft gehen die Besitzarten mit Geburtsständen und 
Beschäftigungsarten Verbindungen ein. — Die 
Bildung reiner Besitzverbände (z. B. Aktiengesell- 
schaften) hat nicht unbedeutende Schattenseiten. 
Was einer menschlichen Vereinigung den sittlichen 
Wert gibt, das Zusammenwirken zu gemein- 
samem Zweck und die so erreichte Erziehung zu 
gemeinnütziger Tätigkeit, fehlt hier vollständig. 
Jeder verfolgt nur den Erwerbszweck und kennt 
oft seine Genossen nicht einmal (vgl. Wundt, Ethik 
II (11902) 294). 
Unter wirtschaftlichem Beruf versteht man die 
Zugehörigkeit einer Person zu einem der Erwerbs- 
zweige, in die sich das Erwerbsleben der Bevöl- 
kerung teilt. Bei dem Ausdrucke Klassen pflegt 
man weniger an Arbeitsverschiedenheit als an 
Besitzgegensätze zu denken, und hier wieder nicht 
so sehr an die Art, sondern an Größe und Klein- 
heit des Besitzes, wodurch die Betreffenden ent- 
weder zu ständiger Arbeit gezwungen oder der- 
selben überhoben sind. Die von der modernen 
Industrieentwicklung stark vermehrte besitzlose, 
bloß auf die Arbeit angewiesene, also von der 
Hand in den Mund lebende Klasse nennt die 
neuere Sprache Proletariat. Den hierher Ge- 
hörigen gehen materielle wie Bildungsgüter ver- 
lustig und damit die Grundlagen einer gesellschaft- 
lichen Stellung; sie sind aber vom Bewußtsein 
einer Berechtigung hierauf erfüllt. 
Die Interessengemeinschaft ist nicht nur durch 
den gleichen Beruf, sondern auch durch die ent- 
sprechende Stellung im Berufe bedingt: Groß- 
grundbesitzer, Kleingrundbesitzer und Pächter zeigen 
Unterschiede in ihren landwirtschaftlichen Inter- 
essen. Ahnlich auf industriellem Gebiete. Es 
gibt Arbeiter und Unternehmer umspannende Be- 
rufsgenossenschaften und Vereinigungen nur der 
Arbeiter: Gewerkschaften, Fachvereine, Fachver- 
bände. Anderseits sind die Unternehmer bestrebt, 
durch Kartelle die Produktion dem Bedarf an- 
zupassen. Hierher gehören ferner die Meister= und 
Gesellenvereine und die Arbeitervereine. 
Die einem geistigen Interesse ihre Ent- 
stehung verdankenden menschlichen Vereinigungen 
hat man in solche geteilt, die sich vorwiegend an 
die Verstandes-, und solche, die sich an die Willens- 
tätigkeit wenden. Das Bildungswesen, in 
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