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dem sich u. a. das soziale Leben betätigt, zeigt
einen weiten Kreis von Bestrebungen und Organi-
sationen. Nicht nur die gelehrten Gesellschaften,
Vereine und Lehranstalten sind hier zu erwähnen,
auch Einrichtungen wie Theater und Presse ge-
hören zu einem großen Teile hierher. Auch der
Besitz höherer Bildung bietet einen Vereinigungs-
grund und mildert die sonst zwischen den Besitz-
klassen bestehenden Unterschiede, indem er oft nur
das entsprechende Erziehungskapital besitzende Fa-
milien mit den gebildeten Reichen zur sog. „guten
Gesellschaft“ verschmilzt, die sich durch besondere
Umgangssitten von andern Schichten unterscheidet.
Umgekehrt hält der Mangel an Bildung empor-
gekommene, aber ungebildete Reiche aus den
besseren Kreisen fern. Selbstverständlich ist das,
was gewöhnlich Bildung genannt wird, also ins-
besondere die intellektuelle Bildung und Lebensart,
nicht Selbstzweck, sondern untergeordnet, Mittel
und Werkzeug der höheren inneren, der moralischen
Bildung.
Dem ethischen Gebiete gehören vor allem
die religiösen Vereinigungen an, sodann die be-
treffenden Erscheinungen im Rechts= und Staats-
leben, die gemeinnützigen Vereinigungen zu Werken
der Wohltätigkeit und der sittlichen Ubung, die
sich zusammenschließenden Anhänger politischer,
sozialer, wirtschaftlicher, religiöser Grundsätze,
welche diese Anschauungen auf das Staats= und
Gesellschaftsleben zu übertragen und zu verwirk-
lichen streben; endlich die geselligen Vereine. Auch
bezeichnet man mit Gesellschaft die lose Form des
zu Erholungszwecken gepflegten regelmäßigen Ver-
kehrs (Umgang) und meint dies insbesondere dann,
wenn im moralischen Sinne von guter undsschlechter
Gesellschaft gesprochen wird. Zu solchen losen ge-
selligen Vereinigungen zählen auch die zufälligen
und regelmäßigen traurigen und freudigen ge-
meinsamen Kundgebungen, z. B. die Feste, die
eine Vereinigung der Genossen zu gemeinsamer
Freude sind, da sich in ihnen die Freude des ein-
zelnen zu gesellschaftlicher Freude erhebt.
III. Berhältnis der Gesellschaften unter-
einander; Staat und Gesellschaft. Es besteht
eine bunte Mannigfaltigkeit der Verflechtungen,
der Kreuzung, Häufung und des Kampfes der
Interessengemeinschaften, wobei für das Fern-
bleiben von gefährlichen Störungen und Erschüt-
terungen die oberste Gemeinschaft zu sorgen ver-
pflichtet ist. Die einzelnen Haupt= und Unterarten
treten in freundliche, aber auch feindliche Be-
ziehungen zueinander, wie ja auch bei den Indi-
viduen die gleiche Beschäftigung nicht bloß Zu-
sammenschluß, sondern auch Nebenbuhlerschaft
(Konkurrenten)hervorbringt. Durch die Interessen-
vertretung kann sowohl eine Steigerung als eine
Abschwächung der Gemeinbestrebungen entstehen:
eine Schwächung, wenn sich die Interessen kreuzen,
wenn dieselben Menschen durch die einen Inter-
essen an den einen, durch andere an einen andern
Gesellschaftskreis gebunden sind; eine Steigerung,
Gesellschaft usw.
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wenn Beschäftigungsarten mit Besitzverhältnissen
Verbindungen eingehen, wodurch die betreffenden
Arbeitsgemeinschaften an Festigkeit gewinnen, oder
wenn Gemeinschaften durch Zeit= und Raumver-
hältnisse verstärkt werden.
Abgesehen nämlich von ihrer innern Natur sind
boziale Gestaltungen um so wichtiger, je hervor-
ragender sie in Bezug auf Zeit und Raum er-
scheinen. Erst die dauernden Beziehungen ver-
ein#igen eine Mehrheit von Menschen (im Unter-
schiede von einer bloßen Versammlung) zu einer
Gesellschaft. Darum sind auch die sog. notwendigen
Gesellschaften: Familie, Kirche, Staat, von so
großer Dauer, und deshalb spielt die Erblich-
keit bei der Frage nach der Festigkeit einer Ge-
sellschaft eine so große Rolle. Wer eine Familie
gründet, so lautet der Grundgedanke des Erbrechts,
soll die Erhaltung des Standes, in welchen er
seine Nachkommen dadurch gebracht, daß er ihnen
Leben und Erxziehung gab, nach Möglichkeit sichern.
Gegenwärtig ist die Bedeutung der Geburtsstände
rechtlich fast ganz verschwunden, aber tatsächlich
nicht beseitigt. In der Regel entscheidet ja doch
auch heute die Abkunft über die soziale Stellung,
über die Zugehörigkeit zu den oberen Zehntausend
oder zum Arbeiterstande. Der Geburtsstand des
Adels, der in früherer Zeit wegen seiner gemein-
nützigen Aufgaben eine größere Bedeutung hatte,
beruht auf der bleibenden Anerkennung des Vor-
zuges gewisser Familien. Immerhin hat er auch
jetzt noch seine eigenen festgehaltenen Lebensan-
schauungen, teilweise auch seine eigenen Sitten und
Grundsätze über Abstammung und Ehe.
Den Ausgleich der lose verbundenen Lebens-
kreise besorgt die Rechtsordnung. Wie jetzt die
Dinge liegen, ist die ausgleichende Machteinheit
der Staatz er schützt die freie Ausdehnung der
berechtigten Interessen; ihm liegt das Werk der
Einigung ob; er ist im weltlichen Sinne die erste,
die organisierte Gesellschaft. Der bildliche Aus-
druck „organisch“ soll nur den Vorgang veran-
schaulichen, daß Teile von ungleicher Struktur und
Funktion zur Erhaltung des Ganzen zusammen-
wirken und ihrerseits vom Ganzen erhalten werden.
Die Staatstätigkeit gegenüber der Gesellschaft
beschränkt sich auf Ausgleichung, Förderung und
Eindämmung der Gesellschaftskreise, auf Hem-
mungen und Anregungen sowie auf Organisations-
nötigungen, die zur Vermeidung der Störungen
und unfruchtbaren Getriebes und Gewühles, wo
der Staat Nachteile von der sich selbst überlassenen
Gesellschaft fürchtet, unerläßlich find. Der Staat
unterstützt, wo die eigene Kraft der Betreffenden
zur Erreichung des nützlichen Zweckes nicht ge-
nügt; er fördert gesellschaftliche Vereinigungen,
die der Teilung der Arbeit, dem Streben nach
Selbstbeteiligung der Staatsbürger an den all-
gemeinen Staatszwecken dienlich sind. Der Staat
steuert anderseits jenen Reibungen der Gesellschafts-
klassen, die den Aufgaben der Gesamtheit hemmend
entgegentreten; er kann die Freiheit der einzelnen