Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

571 
echten Freimaurers und sogar in Gegenwart des 
Br.-. Kaiser Wilhelm I., auf einem internatio- 
nalen Freimaurerkongreß in Mailand 1875, als 
„das Musterbild aller maurerischen Tugenden“ 
gefeiert wurde (Bauhütte 1875, 359). 
Gegen den „Atheismus“ wird in Art. 1 der 
„Alten Pflichten“ nur insoweit Stellung genom- 
men, als es unbedingt geboten war, um den Frei- 
maurerbund nicht von vornherein als eine offen 
atheistische Vereinigung zu diskreditieren. Es ist 
darin nicht klar ausgesprochen, daß Atheismus 
vom Freimaurerbund ausschließe, sondern nur 
die Erwartung ausgedrückt, daß der Freimaurer 
kein „törichter“ (stupid) Atheist und kein „ruch- 
loser“ Freigeist sein werde, d. h. daß er nicht in 
stumpfsinniger Weise einem dogmatisch-materiali- 
stischen, aller Ideale baren Atheismus huldige oder 
durch beschränkt aufdringliche Vertretung desselben 
die religiösen Empfindungen Andersdenkender mit 
mutwilliger Roheit verletze. Und selbst bezüglich 
eines solchen „stumpfsinnigen Atheisten“ begnügt 
sich der Art. 1 mit der rein platonischen Fest- 
stellung, daß er die „Kunst nicht recht verstehe“. 
Unter „Kunst" ist hier zweifelsohne die eigentliche 
Arbeitsmethode der Freimaurerei zu verstehen. 
Diese Arbeitsmethode besteht darin, daß die Frei- 
maurerei unter Anpassung an das jeweilige Ent- 
wicklungsstadium der zu bearbeitenden Mitglieder 
und Volkskreise, durch Ausbreitung und Geltend- 
machung der freimaurerischen Grundsätze, „im 
stillen, möglichst unauffällig“ zunächst eine all- 
mähliche Umgestaltung der Anschauungen und 
Sitten in ihrem Sinne zu bewirken sucht, um so 
den Boden für entsprechende Reformen betreffend 
die politisch-sozial -religiöse Regeneration der 
menschlichen Gesellschaft systematisch vorzubereiten. 
Diesem Arbeitsplan gemäß finden Leute der ver- 
schiedensten religiösen und politischen Richtungen 
Aufnahme; ferngehalten werden nur solche, welche, 
wie z. B. „Ultramontane“, d. h. überzeugungs- 
treue Katholiken, der „Erziehung“ zum freimaure- 
rischen Humanitätsideal von vornherein unzugäng- 
lich erscheinen. Die ausgenommenen Mitglieder 
werden angewiesen, durch selbständiges Studium 
der freimaurerischen Grundsätze und Symbolik sich 
mehr und mehr von den „Vorurteilen“ der „pro- 
fanen“ Welt zu befreien und in das Geheimnis 
der „königlichen Kunst“ immer tiefer einzudringen, 
d. h. das freimaurerische Humanitätsprinzip in 
seiner theoretischen Tragweite und seinen praktischen 
Folgerungen immer vollständiger zu erfassen. Beie 
einer solchen Arbeitsmethode begreift man, daß 
ein „stupider“ Atheist als enfant terrible äußerst 
störend wirken müßte. Die „Kunst“ erfordert viel- 
mehr, daß der Freimaurerbund den offenen Bruch 
mit den religiösen Anschauungen der Umgebung 
vermeide und freisinnigere Anschauungen nicht 
durch radikale Beseitigung, sondern durch allmäh- 
liche Umdeutung der religiösen Symbole: Welt- 
baumeister, Bibel, Allsehendes Auge usw., zur Gel- 
tung bringe. Mit dieser Auffassung von der „könig- 
Gesellschaften, geheime. 
572 
lichen Kunst"“ steht auch die freimaurerische Praxis 
im Einklang. Denn sämtliche Richtungen des Frei- 
maurerbundes, auch die angeblich „christlichen“ und 
anscheinend streng gottes= und bibelgläubigen, 
begnügen sich amtlich damit, daß die Weltenbau- 
meisterformel, das Bibelsymbol usw. nicht formell 
über Bord geworfen werden, indem sie ausdrück- 
lich erklären, daß es im übrigen jedem Freimaurer 
völlig freistehe, sich darunter vorzustellen, was ihm 
beliebe. Demgemäß wird z. B. im „Allg. Handb. 
der Freimaurerei“ (11. 231) die Religion auf die 
zwei Gefühle zurückgeführt: „Gottesfurcht“, d. h. 
das Gefühl der Abhängigkeit „gegenüber den über- 
legenen Mächten des Weltlaufes“, und „Gottver- 
trauen“, d. h. die „Zuversicht“, „daß alles Wirk- 
liche aus dem Guten stamme, und was geschieht, 
zum Besten dienen müsse“. Dieses Handbuch dient 
nicht nur den Freimaurern deutscher Zunge als 
maßgebendstes Nachschlagebuch, sondern wird auch 
von allen ernsthafteren freimaurerischen Forschern 
englischer Zunge als die weitaus beste Enzyklo- 
pädie der Freimaurerei (AOC XI 64) bezeichnet. 
Ein italienischer Freimaurerkongreß stellte noch am 
20. Sept. 1908 (Riv. 1908, 310) fest, daß das 
Weltenbaumeistersymbol in keiner Weise dogma- 
tisch sei, sondern nur das zu erstrebende menschliche 
Zivilisationsideal darstelle. Viele andere deutsche 
und sozusagen sämtliche französischen Freimaurer, 
auch die mit den Berlinern Großlogen verbrüderten 
von der Großloge von Frankreich, sprechen offen 
aus (Signale 1904, 54, 74; 1905, 27 usw.), 
daß der biblische und kirchliche Gottesbegriff ein 
von der Wissenschaft längst abgetaner „Anthropo= 
morphismus“ sei, und daß der wahre Gott oder 
das „Göttliche“ nicht ein außerweltlicher Schöpfer, 
sondern das innermenschliche „Ideal des Wahren, 
Guten und Schönen“" sei, das der Mensch oder die 
Menschheit sich selber bilde, und welches besonders 
in der Stimme des Gewissens oder im Sittengesetz 
zum Ausdruck komme. Damit wird dem biblischen 
Gott, der den Menschen nach seinem Ebenbilde er- 
schuf, ein Gott entgegengestellt, welchen der Mensch 
sich selbst nach „seinem“ Ebenbilde formt. Dieser 
Gottesglaube, wird weiter erklärt, ist so weit vom 
„Atheismus“ entfernt, daß er vielmehr nur eine 
höhere Stufe der Gotteserkenntnis und -verehrung 
darstellt. Abgesehen von Narren, so bemerken 
„atheistische“ französische Freimaurer, kann es über- 
haupt keine Atheisten geben, da kein mit Verstand 
begabter Mensch im Ernste seine Abhängigkeit von 
überlegenen Naturgewalten oder das Bestehen von 
Idealen leugnen könne. Im Lichte dieser freimaure- 
rischen Grundsätze und „Kunst“ regeln erscheinen 
die viel Staub aufwirbelnden Streitigkeiten zwi- 
schen verschiedenen freimaurerischen Großlogen be- 
züglich des Gottesglaubens, besonders seit 1877, 
im Grunde mehr oder minder als Wortklaubereien. 
Sachlich hatte der Großorient von Frankreich vom 
freimaurerischen Standpunkte ganz recht, wenn er 
am 13. Sept. 1877 „die absolute Gewissensfreiheit 
und die menschliche Solidarität“ als die leitenden 
  
 
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.