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dem Zeugnis Stukeleys (Mitglied der Royal So-
ciety) in London noch kaum die nötige Zahl Frei-
maurer auftreiben, die zur Aufnahme eines neuen
Bruders erforderlich war. „Aber gleich darauf
kam die Sache in Gang und rannte sich durch die
Narrheit der Mitglieder außer Atem.“ Die Frei-
maurerei wurde zur „öffentlichen Mode und
verbreitete sich nicht nur in Britannien und Ir-
land, sondern in ganz Europa“ (Gould, Hist. II
284 f). Bereits 1740 waren in der Tat alle zivi-
lisierten Länder Europas und Amerikas mit einem
Netz von Freimaurerlogen überzogen. Eine Haupt-
anziehungskraft übte nach dem einstimmigen Zeug-
nis von Freimaurern selbst das Geheimnis aus,
in das der Bund sich hüllte. Durch den Beitritt
erhoffte man Einweihung in wertvolle geheime
Wissenschaften und Künste, passenden gesellschaft-
lichen Anschluß und die Gelegenheit zu offenem
Gedankenaustausch, zur Ausheckung sozialer Re-
formprojekte und zu ungestörter Betreibung sonstiger
Liebhabereien des Zeitalters und obendrein wesent-
liche Förderung im Fortkommen usw. Bei dem
UÜberdruß an dem öden theologischen Gezänke, wel-
cher die damalige gebildete Welt nach den langen
unheilvollen Religionsstreitigkeiten erfüllte, trug
auch der adogmatische kosmopolitisch-neutrale Cha-
rakter der Freimaurerei wesentlich zu deren Aus-
breitung bei. Der Beitritt angesehener Glieder des
Hochadels und insbesondere regierender Fürsten,
vor allem des späteren Kaisers Franz I. 1731 und
des nachmaligen Königs Friedrich II. von Preußen
1738, vollendete die Modefähigkeit der Freimau-
rerei in den damaligen höheren Gesellschaftskreisen.
Diese Ausbreitung des Freimaurerbundes stellt
schon an sich eine gewaltige Einwirkung desselben
auf die Außenwelt dar, indem dadurch die bereits
vorhandenen gleichgerichteten Strömungen und
Bestrebungen in einer großen internationalen Ge-
heimbundorganisation konzentriert und systemati-
siert und dadurch wesentlich verstärkt wurden. Die
Art der Wirksamkeit des Freimaurerbundes im
einzelnen weist bei stetigen, immer sich gleichblei-
benden Grundzügen, nach Ländern, Nationalitä=
ten und Zeitumständen, mannigfache Verschieden-
heiten auf. Allen Zweigen des Freimaurerbundes
gemeinsam ist die stille, unauffällige Wirksam-
keit durch die Verbreitung und Betätigung der
freimaurerischen Grundsätze, welche allen Frei-
maurern zur Pflicht gemacht wird. Diese Wirk-
samkeit schildert ein hervorragender amerikanischer
Br.-, J. W. Taylor, zutreffend: Die politischen
und sozialen Reformen werden nicht so sehr durch
die unmittelbar wahrnehmbaren Ursachen bewirkt
als durch die unauffällige, allmähliche, systematische
Ausbreitung von „Grundsätzen“, als deren reife
Frucht sie in die Erscheinung treten, so daß schließ-
lich ganze „Nationen wie ein Mann sich zur Voll-
bringung der großen Endziele aufraffen. So übt
die Freimaurerei ihren Einfluß auf das Menschen-
geschlecht aus. Sie arbeitet still und insgeheim,
durchdringt aber alle Fugen und Verzweigungen
Gesellschaften, geheime.
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der Gesellschaft in allen ihren Beziehungen“. „Ein-
zeln genommen sind diese Einwirkungen unschein-
bar und unbedeutend“; „in ihrer Vereinigung
aber sind sie die Grundlage unseres sozialen und
sittlichen Systems, auf dem sich der Bau unserer
Künste und Wissenschaften, unserer Sittlichkeit und
Zivilisation erhebt“ (Chr. 1897 II 303). Da
sämtliche Freimaurer den sozial einflußreicheren
Schichten der Gesellschaft angehören, so begreift
es sich, daß sie, wenngleich großenteils geistig nicht
hervorragend, diesen Einfluß wohl ausüben können,
besonders da sie allgemein bestrebt sind, auch geistes-
verwandte Elemente und Organisationen zur Mit-
arbeit heranzuziehen, und da sie überdies als Ge-
heimbund arbeiten. In letzterer Hinsicht bemerkt
das angesehene Wiener „Journal für Freimaurer“
(V/17851 72 f.) sehr zutreffend: „Ebendeswegen,
weil . wir verbunden sind, unsere menschen-
freundlichen Absichten .. den Uneingeweihten zu
verhehlen, scheuen sich weder Aberglauben noch
Unglauben, weder Gewalttätigkeit noch Hinterlist,
ihre eigentümliche Sprache zu unsern unerkannten
Brüdern zu führen; sie selbst vertrauen uns ohne
Zurückhaltung ihre geheimsten Entwürfe, ihre ver-
decktesten Unternehmungen (an), und geben uns
so die Gelegenheit, denselben zu entgehen: ja sie
selbst bieten uns die Gegenmittel dar, sie zu hinter-
treiben. Wir wandeln in dreifacher Nacht gehüllt
mitten unter unsern Widersachern und sehen un-
gesehen ihre Schwächen und erringen uns so die
Herrschaft über ihren Geist und über ihr Herz.
Ihre Leidenschaften dienen uns als Triebfedern,
durch die wir sie, ohne daß sie es gewahr werden,
ins Spiel setzen und sie unvermerkt zwingen, ge-
meinschaftlich mit uns an dem Besten der Mensch-
heit zu arbeiten, indem sie bloß ihre besondern
Wünsche zu befriedigen wähnen."“
In der hier geschilderten Weise war die Frei-
maurerei seit etwa 1740 ein hervorragender Faktor
im gesamten öffentlichen Leben der Völker deschrist-
lichen Abendlandes und insbesondere an kultur-
kämpferischen Bestrebungen und revolutionären
Umtrieben stark beteiligt. Im 18. Jahrh. wurde
der stille und offene Kulturkampf im Namen der
freigeistigen „Aufklärung“ geführt, welche durch die
französischen „Philosophen“, und an ihrer Spitze
Voltaire, in den gebildeten Kreisen nicht bloß Frank-
reichs, sondern des ganzen europäischen Kontinents
eingebürgert wurde. Die nahen Beziehungen der
„Philosophen“ zur Freimaurerei werden durch die
Tatsache erhärtet, daß dieselben, wie z. B. Hel-
vetius, einer der radikalsten, entweder selbst dem
Freimaurerbund angehörten, oder wie der Fürst
der ganzen Philosophenschule, Voltaire, im höchsten
Alter noch demselben beitraten. Am 7. Febr. 1778
wurde Voltaire mit einer ganz außerordentlichen
Feierlichkeit in die Loge Les neuf seeurs in
Paris aufgenommen, wobei er die maurerische
Bekleidung des 1771 verstorbenen Br.“ Helvetius
trug (Allg. Handb. 11 517). Da die Gesellschafts-
kreise, aus denen die Freimaurerei der romanischen