Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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monarchischen Staaten Deutschlands die gesetz- 
geberischen Willensakte erzeugen, erscheinen die 
Krone und die Vertretungskörper, welch letztere 
verschiedene Namen führen (gesetzgebende Ver- 
sammlung scorps lgislatifl, Kammer, Landtag, 
Landschaft, Landstände, Ständeversammlung) und 
in den verschiedenen Ländern verschieden zusammen- 
gesetzt snd. Die kleineren Staaten haben das Ein- 
kammersystem, die größeren das Zweikammersystem. 
Die Volksvertretung im weiteren Sinne hat bei 
diesem ihrem Zusammenarbeiten mit der Regie- 
rung in unverantwortlicher Stellung für das Wohl 
der Gesamtheit zu wirken. Entweder legt die Re- 
gierung einen Gesetzentwurf vor, der dann durch 
Landtagsbeschluß angenommen, verworfen oder 
umgeändert wird (Amendement), oder es macht 
der Landtag von seinem Rechte der Initiative 
Gebrauch und bringt selber Gesetzesvorschläge ein. 
Ülber solche Vorlagen wird in mehreren „Lesungen"“ 
beraten (s. d. Art. Geschäftsordnung, parlamen- 
tarische). 
Nach schließlicher Einigung beider Teile erfolgt 
die Erteilung des Gesetzesbefehls von seiten des 
allein hierzu berechtigten Monarchen (Sanktion) 
sowie gleichzeitig die an bestimmte Formen ge- 
bundene feierliche Erklärung des Gesetzeswillens 
(Ausfertigung); in Verbindung damit steht ge- 
wöhnlich der Publikationsbefehl (meistens wird 
nur zwischen Sanktion und Publikation unter- 
schieden, wobei letztere der Ausfertigung begrifflich 
gleichgestellt ist); erst durch seine Verkündigung 
(Promulgation) erhält das Gesetz verbindliche 
Kraft; die Publikation ist wiederum ein Recht 
des Monarchen, der dieselbe auch hinausschieben 
kann. Für den Eintritt der Rechtskraft eines Ge- 
setzes können übrigens auch allgemeine oder be- 
sondere Vorschriften bestehen. In den freien 
Städten Bremen, Lübeck und Hamburg ist das 
Gesetz ein Produkt der Beschlußfassung von Senat 
und Bürgerschaft; beide Faktoren sind sich gleich- 
gestellt, beide haben das Initiativrecht. Ein über- 
einstimmender Beschluß derselben erhärtet sich ohne 
weitere Sanktionierung zum Gesetz und muß vom 
Senate unbedingt publiziert werden. 
Im Deutschen Reiche haben die im Bundesrat 
versammelten bevollmächtigten Regierungsvertreter 
der Einzelstaaten in Verbindung mit dem Reichs- 
tag das Gesetzgebungsrecht; die Mitglieder des 
letzteren sind Vertreter des ganzen deutschen Volkes 
und nicht bloß Mandatare ihrer Länder. Die 
Sanktion der Reichsgesetze erfolgt durch den Bun- 
desrat. Der Kaiser hat nur das Recht der Aus- 
fertigung und Verkündigung der Reichsgesetze, 
auch die Uberwachung der Ausführung derselben 
(Art. 17 der Verfassung), welche im Namen des 
Reichs unter Erwähnung der Zustimmung der 
beiden Faktoren geschieht; er ist als solcher dazu 
verpflichtet. Die Publikation erfolgt im Reichs- 
gesetzblatt, und wenn nicht anders bestimmt wird, 
hat ein Reichsgesetz mit dem 14. Tage nach dem 
Ablauf des Tages, an dem das betreffende Stück 
Gesetzgebung. 
  
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des Reichsgesetzblattes ausgegeben wurde, verbind- 
liche Kraft, in den Bezirken der Konsulargerichts- 
barkeit in Europa, Agypten und an der asiatischen 
Küste des Schwarzen und des Mittelländischen 
Meeres mit dem Ablauf von zwei, sonst von vier 
Monaten nach dem genannten Tage, soweit nicht 
ein späterer Zeitpunkt festgesetzt ist oder reichs- 
gesetzlich anders vorgeschrieben wird (§ 30 des 
Reichsgesetzes über die Konsulargerichtsbarkeit vom 
7. April 1900). Dasselbe gilt für die deutschen 
Schutzgebiete (§ 3 des Schutzgebietsgesetzes in der 
Fassung der Bekanntmachung vom 10. Sept. 
1900). Für das Reichsland Elsaß-Lothringen übt 
die Landesgesetzgebung und das Budgetrecht der 
Bundesrat mit dem Reichstag aus; die dies- 
bezüglichen Beschlüsse müssen vom Kaiser publi- 
ziert werden. Nach dem Reichsgesetz vom 2. Mai 
1877 aber ist außerdem auch der Kaiser unter 
Zustimmung des Bundesrats sowie des elsaß- 
lothringischen Landesausschusses zur Landesgesetz- 
gebung befugt, in welchem Falle ihm auch das 
Sanktionsrecht zusteht. Der Kaiser hat auch, so- 
lange der Reichstag nicht versammelt ist, unter 
Zustimmung des Bundesrats ein provisorisches 
Gesetzgebungsrecht. Die Publikation erfolgt im 
Reichsgesetzblatt (wie oben) oder, wenn es sich bloß 
umreichsländischen Stoff handelt, im Gesetzblatt 
für Elsaß-Lothringen. Vgl. auch die Reichsgesetze 
vom 4. Juli 1879 und 7. Juli 1887. 
Was die der ordentlichen Gesetzgebung gesetzten 
Schranken anbelangt, so ist schon oben er- 
wähnt worden, daß dieselbe nicht mit der Ver- 
fassung im Widerspruch stehen darf; ferner gilt, 
entsprechend dem früheren Verhältnis von Land- 
recht zu Stadtrecht, in Deutschland die grund- 
gesetzliche Bestimmung, daß ein Gesetz des Reiches 
ein in dessen Kompetenz übergreifendes Landes- 
gesetz bricht. Die Gesetzgebungsgewalt kann wohl 
auch einzelne von einem Gesetze dispensieren, sie 
darf aber niemals wohlerworbene Individualrechte 
bedingungslos bzw. ohne Entschädigung der Be- 
treffenden schmälern oder aufheben; ein solches 
Eingreifen in die iura quaesita ist nur dann be- 
gründet, wenn es das Gesamtinteresse offenbar 
fordert (Steuern und Gebühren, Expropriation, 
Abolition z. B. der Sklaverei). Bezüglich der 
rückwirkenden Kraft der Gesetze ist zu sagen, daß 
sie nur sehr bedingt möglich ist (z. B. authentische 
Interpretation, mildere Strafgesetze). Wie nun 
ein einfaches Gesetz durch die Verfassung beschränkt 
ist, so muß man auch an die gesamte Gesetzgebung 
die Anforderung stellen, daß sie weder den posi- 
tiven göttlichen Geboten noch dem natürlichen 
Sittengesetz zuwiderläuft. Was von Natur un- 
möglich ist, darf ebensowenig Gegenstand der Ge- 
gebung sein wie das sittlich Verwerfliche. Ferner 
wird sich die Staatsgewalt in Ausübung ihrer 
vornehmsten Funktionen vor Übergriffen in das 
Gebiet kirchlicher Jurisdiktion oder in Gewissens- 
angelegenheiten hüten müssen, wie umgekehrt die 
Kirche nicht in rein weltliche Dinge eingreifen soll. 
 
	        
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