Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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sperren u. dgl., nicht vorwaltend aus Rücksichten 
der öffentlichen Gesundheitspflege. Noch viel 
weniger betrachtet man Bestrebungen ethischer 
Art, wie die Pflege der Religion und Sittlichkeit, 
aus dem Gesichtspunkte der öffentlichen Gesund- 
heitspflege. Dennoch läßt sich nicht verkennen, 
daß die menschlichen Leidenschaften und Schwächen 
der öffentlichen Gesundheit mehr zusetzen als die 
schlimmsten Epidemien. Zu frühzeitiges Heiraten, 
Müßiggang, Völlerei. Trunksucht, Unsittlichkeit 
und Zorn verursachen mehr Gesundheitsunter- 
grabungen und Todesfälle als schlechte Kleidung 
und Wohnung, Verderbtheit der Luft, des Was- 
sers und der Nahrungsmittel und Mangel an 
denselben. Alkoholismus und Syphilis, die größ- 
ten sozialen Übel unserer Zeit, lassen sich auf 
keine andere Weise in großem Stile wirksam 
bekämpfen als durch Verhüten. Wie will man 
nun eine ausgiebige Prophylaxis anders erzielen 
als durch Verbreiten ethischer Anschauungen und 
durch Kräftigung des Charakters der Jugend? 
Und kann jemand im Ernste glauben, dieses ohne 
gläubig-religiöse Unterweisung erreichen zu kön- 
nen, ohne Anleitung und Erziehung zu praktischer 
Betätigung des Sittengesetzes, welches Beherr- 
schung der Leidenschaften lehrt und die Mittel 
dazu an die Hand gibt? Es sei dies hier hervor- 
gehoben, weil einzelne eifrige Vorkämpfer der 
Gesundheitspflege gerade dem positiven Glauben, 
seinem Bekenntnisse, seiner Betätigung und Aus- 
breitung feindlich gegenüberstehen. Eine der vor- 
nehmsten Aufgaben der Religion, ganz besonders 
des erhabensten der Bekenntnisse, des Christen- 
tums, ist die Befreiung des Menschen von seinen 
ihn herabziehenden Leidenschaften, und nichts 
pflegt erfolgreicher und nachhaltiger die edleren 
Regungen des Herzens und hält den Sinn auf 
Höheres gerichtet als Lehre und Ubung christlicher 
Grundsätze. 
1. Allgemeine Hygiene. Der Mensch 
hat zum Unterhalte des Lebens Luft, Wasser 
und Nährsubstanzen nötig; dann aber bedarf er 
auch der Kleidung und Wohnung, welche die 
Unterschiede der Witterung, der Jahreszeiten und 
des Klimas ausgleichen und somit durch Re- 
gulierung der Hautwärme für den Stoffwechsel 
von Bedeutung sind. So anpassungsfähig der 
gesunde Mensch und so gut er zur Abwehr von 
Angriffen auf seine Gesundheit organisiert ist, 
so gibt es doch schon quantitativ ein gewisses 
mittleres Maß dessen, was er an Luft, Wasser, 
Nähr= und Genußstoffen, Kleidung und Wohnung 
bedarf oder wenigstens für lange Zeit anhaltend 
nicht entbehren kann, wenn die normalen Körper- 
verrichtungen keine Einbuße erleiden sollen. Mehr 
noch sind qualitative Verschlechterungen der natür- 
lichen Lebensbedingungen für die Leistungsfähig- 
keit der Organe nicht gleichgültig, sondern schädigen 
sie bei längerer Einwirkung dauernd. Verderbnis 
der Luft und der andern die Lebensvorgänge 
unterhaltenden Substanzen wird teilweise durch 
Gesundheitspflege ufw. 
  
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den Lebensprozeß selbst bewirkt. Gewisse Produkte 
des animalen Stoffwechsels, welche gasförmig, 
flüssig oder fest durch Haut, Lungen, Nieren und 
den Darmkanal ausgeschieden werden, sind nicht 
allein ferner wertlos für den Körper, sondern ihm 
geradezu feindlich, wenn sie nicht aus seiner Nähe 
entfernt werden. Dazu kommt, daß diese und alle 
andern dem pflanzlichen und tierischen Leben ent- 
stammenden organischen Substanzen unter der 
Mitwirkung von Spaltpilzen weitere Umsetzungen 
erleiden, aus welchen giftige Gase und Alkaloide 
bzw. Eiweißkörper (Ptomaine, Leichengifte) her- 
vorgehen, die der Luft und dem Wasser usw. sich 
beimischen. Endlich bieten in Zersetzung begriffene 
organische Substanzen einen günstigen Boden für 
Ansiedlung und rasche Vermehrung auch spezifi- 
scher, krankmachender (pathogener) Mikroben, durch 
welche chronische oder akute, seuchenartige Krank- 
heiten entstehen, indem sie direkt von Person zu 
Person (kontagiös) oder indirekt durch Vermitt- 
lung der Luft, des Wassers, des Bodens usw. 
(miasmatisch oder miasmatisch-kontagiös) ver- 
breitet werden. 
Diese dem Leben feindlichen Vorgänge wachsen 
im geraden Verhältnisse zur Dichtigkeit der 
Bevölkerung, treten demnach in Städten mehr zu- 
tage als auf dem Lande. Je größer, enger und 
volkreicher eine Stadt ist, je mehr Handel, In- 
dustrie und Gewerbe dort blühen, um so ver- 
wickelter werden die Bedingungen, welche die 
Erhaltung der Gesundheit gewährleisten, um so 
schwieriger wird die Zufuhr reiner Luft, guten 
Wassers, unverfälschter und unverdorbener Nah- 
rungemittel, um so schwieriger die Beiseiteschaffung 
des Unbrauchbaren: der Abfallprodukte des Stoff- 
wechsels von Mensch und Tier und solcher wirt- 
schaftlicher, gewerblicher und industrieller Art. 
Einzelne Sammelpunkte vieler Individuen auf 
relativ beschränktem Raum, deren es gerade in 
großen Städten zahlreiche gibt, tragen diese Übel- 
stände in noch höherem Grade an sich. Er- 
ziehungs= und Krankenanstalten, Gefängnisse, 
Kasernen, Waisen= und Zinshäuser und ähnliche 
zu dauerndem Aufenthalte zahlreicher Insassen 
bestimmte Gebäude können so leicht für diese und 
indirekt auch für die außerhalb der Anstalten 
Befindlichen an und für sich gesundheitsgefährlich 
werden. Dasselbe gilt für alle Betriebe, Veran- 
staltungen und Versammlungen, bei denen stunden- 
lang zahlreiche Personen in einem und demselben 
Raume vereinigt werden. Bei industriellen und 
gewerblichen Betrieben kommen außerdem noch 
besondere die Gesundheit beeinträchtigenden Um- 
stände in Betracht, wie Staubentwicklung, metal- 
lische oder organische Gifte, übermäßige An- 
strengung der Organe usw. Auch der moderne 
Verkehr mit seiner Anhäufung von Menschen- 
massen auf Eisenbahnen, Schiffen usw. ist hier zu 
berücksichtigen. Alle derartigen zeitweiligen oder 
ständigen Sammelzentren von Menschen bergen 
eine große Gefahr für die Verbreitung ansteckender
	        
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