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sperren u. dgl., nicht vorwaltend aus Rücksichten
der öffentlichen Gesundheitspflege. Noch viel
weniger betrachtet man Bestrebungen ethischer
Art, wie die Pflege der Religion und Sittlichkeit,
aus dem Gesichtspunkte der öffentlichen Gesund-
heitspflege. Dennoch läßt sich nicht verkennen,
daß die menschlichen Leidenschaften und Schwächen
der öffentlichen Gesundheit mehr zusetzen als die
schlimmsten Epidemien. Zu frühzeitiges Heiraten,
Müßiggang, Völlerei. Trunksucht, Unsittlichkeit
und Zorn verursachen mehr Gesundheitsunter-
grabungen und Todesfälle als schlechte Kleidung
und Wohnung, Verderbtheit der Luft, des Was-
sers und der Nahrungsmittel und Mangel an
denselben. Alkoholismus und Syphilis, die größ-
ten sozialen Übel unserer Zeit, lassen sich auf
keine andere Weise in großem Stile wirksam
bekämpfen als durch Verhüten. Wie will man
nun eine ausgiebige Prophylaxis anders erzielen
als durch Verbreiten ethischer Anschauungen und
durch Kräftigung des Charakters der Jugend?
Und kann jemand im Ernste glauben, dieses ohne
gläubig-religiöse Unterweisung erreichen zu kön-
nen, ohne Anleitung und Erziehung zu praktischer
Betätigung des Sittengesetzes, welches Beherr-
schung der Leidenschaften lehrt und die Mittel
dazu an die Hand gibt? Es sei dies hier hervor-
gehoben, weil einzelne eifrige Vorkämpfer der
Gesundheitspflege gerade dem positiven Glauben,
seinem Bekenntnisse, seiner Betätigung und Aus-
breitung feindlich gegenüberstehen. Eine der vor-
nehmsten Aufgaben der Religion, ganz besonders
des erhabensten der Bekenntnisse, des Christen-
tums, ist die Befreiung des Menschen von seinen
ihn herabziehenden Leidenschaften, und nichts
pflegt erfolgreicher und nachhaltiger die edleren
Regungen des Herzens und hält den Sinn auf
Höheres gerichtet als Lehre und Ubung christlicher
Grundsätze.
1. Allgemeine Hygiene. Der Mensch
hat zum Unterhalte des Lebens Luft, Wasser
und Nährsubstanzen nötig; dann aber bedarf er
auch der Kleidung und Wohnung, welche die
Unterschiede der Witterung, der Jahreszeiten und
des Klimas ausgleichen und somit durch Re-
gulierung der Hautwärme für den Stoffwechsel
von Bedeutung sind. So anpassungsfähig der
gesunde Mensch und so gut er zur Abwehr von
Angriffen auf seine Gesundheit organisiert ist,
so gibt es doch schon quantitativ ein gewisses
mittleres Maß dessen, was er an Luft, Wasser,
Nähr= und Genußstoffen, Kleidung und Wohnung
bedarf oder wenigstens für lange Zeit anhaltend
nicht entbehren kann, wenn die normalen Körper-
verrichtungen keine Einbuße erleiden sollen. Mehr
noch sind qualitative Verschlechterungen der natür-
lichen Lebensbedingungen für die Leistungsfähig-
keit der Organe nicht gleichgültig, sondern schädigen
sie bei längerer Einwirkung dauernd. Verderbnis
der Luft und der andern die Lebensvorgänge
unterhaltenden Substanzen wird teilweise durch
Gesundheitspflege ufw.
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den Lebensprozeß selbst bewirkt. Gewisse Produkte
des animalen Stoffwechsels, welche gasförmig,
flüssig oder fest durch Haut, Lungen, Nieren und
den Darmkanal ausgeschieden werden, sind nicht
allein ferner wertlos für den Körper, sondern ihm
geradezu feindlich, wenn sie nicht aus seiner Nähe
entfernt werden. Dazu kommt, daß diese und alle
andern dem pflanzlichen und tierischen Leben ent-
stammenden organischen Substanzen unter der
Mitwirkung von Spaltpilzen weitere Umsetzungen
erleiden, aus welchen giftige Gase und Alkaloide
bzw. Eiweißkörper (Ptomaine, Leichengifte) her-
vorgehen, die der Luft und dem Wasser usw. sich
beimischen. Endlich bieten in Zersetzung begriffene
organische Substanzen einen günstigen Boden für
Ansiedlung und rasche Vermehrung auch spezifi-
scher, krankmachender (pathogener) Mikroben, durch
welche chronische oder akute, seuchenartige Krank-
heiten entstehen, indem sie direkt von Person zu
Person (kontagiös) oder indirekt durch Vermitt-
lung der Luft, des Wassers, des Bodens usw.
(miasmatisch oder miasmatisch-kontagiös) ver-
breitet werden.
Diese dem Leben feindlichen Vorgänge wachsen
im geraden Verhältnisse zur Dichtigkeit der
Bevölkerung, treten demnach in Städten mehr zu-
tage als auf dem Lande. Je größer, enger und
volkreicher eine Stadt ist, je mehr Handel, In-
dustrie und Gewerbe dort blühen, um so ver-
wickelter werden die Bedingungen, welche die
Erhaltung der Gesundheit gewährleisten, um so
schwieriger wird die Zufuhr reiner Luft, guten
Wassers, unverfälschter und unverdorbener Nah-
rungemittel, um so schwieriger die Beiseiteschaffung
des Unbrauchbaren: der Abfallprodukte des Stoff-
wechsels von Mensch und Tier und solcher wirt-
schaftlicher, gewerblicher und industrieller Art.
Einzelne Sammelpunkte vieler Individuen auf
relativ beschränktem Raum, deren es gerade in
großen Städten zahlreiche gibt, tragen diese Übel-
stände in noch höherem Grade an sich. Er-
ziehungs= und Krankenanstalten, Gefängnisse,
Kasernen, Waisen= und Zinshäuser und ähnliche
zu dauerndem Aufenthalte zahlreicher Insassen
bestimmte Gebäude können so leicht für diese und
indirekt auch für die außerhalb der Anstalten
Befindlichen an und für sich gesundheitsgefährlich
werden. Dasselbe gilt für alle Betriebe, Veran-
staltungen und Versammlungen, bei denen stunden-
lang zahlreiche Personen in einem und demselben
Raume vereinigt werden. Bei industriellen und
gewerblichen Betrieben kommen außerdem noch
besondere die Gesundheit beeinträchtigenden Um-
stände in Betracht, wie Staubentwicklung, metal-
lische oder organische Gifte, übermäßige An-
strengung der Organe usw. Auch der moderne
Verkehr mit seiner Anhäufung von Menschen-
massen auf Eisenbahnen, Schiffen usw. ist hier zu
berücksichtigen. Alle derartigen zeitweiligen oder
ständigen Sammelzentren von Menschen bergen
eine große Gefahr für die Verbreitung ansteckender