Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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füttern oder auf anderem Wege wird von der 
Reinkultur Tieren etwas einverleibt, und diese 
werden beobachtet bzw. zu verschiedenen Zeiten 
getötet und untersucht. Erkrankt das Tier unter 
ähnlichen Erscheinungen wie der Mensch bzw. 
konstatiert man Vermehrung des Pilzes und be- 
stimmte Organveränderungen durch seine Ein- 
wirkung, so ist der exakte Nachweis der Identität 
der betreffenden Pilzart mit dem die Krankheit 
beim Menschen erzeugenden Mikroorganismus er- 
bracht. Auf diese Weise ist die prinzipielle Über- 
einstimmung z. B. der Perlsucht des Rindviehs 
mit der Tuberkulose des Menschen exakt nachge- 
wiesen. Leider läßt bei manchen Pilzarten das 
Tierexperiment im Stich, weil dieselben (Typhus- 
bazillen u. a.) im Tiere nicht gedeihen, so daß 
für nicht wenige in charakteristischen Kulturen ge- 
züchtete Spezies der unwiderlegliche Beweis der 
pathogenen Spezifität noch aussteht. 
Um weiter die Ursache einer Krankheit und die 
Mittel zu ihrer Bekämpfung zu ergründen, forscht 
der Bakteriologe nach, ob der Pilz durch seine 
Vermehrung an und für sich, d. h. mechanisch 
(durch Verstopfung der Lymphbahnen und Blut- 
kapillaren, Druck auf Zellenkomplexe usw.) oder 
physiologisch (durch Verbrauch des Nährmaterials 
auf Kosten der Zellen) oder chemisch-physiologisch 
(durch Abscheiden gewisser entzündungerregender 
oder die Lebenstätigkeit der Zellen lähmender 
Stoffe) krankheiterzeugend wirkt. Daß die Lebens- 
tätigkeit der Spaltpilze gewisse Alkaloide oder 
Eiweißkörper erzeugt, welche toxisch (unter Um- 
ständen auch schützend, d. h. immunisierend) wirken, 
kann längst keinem Zweifel mehr unterliegen. Das 
Tuberkulin Kochs ist ein solcher Körper, der chemo- 
taktisch, d. h. ohne organisiertes Ferment zu sein, 
nach Art eines Fermentes bei gewissen Schwäche- 
zuständen der Gewebe, wie sie vorzugsweise bei 
Tuberkulose (innerer und äußerer) vorkommen, 
entzündungerregend wirkt. Es ist leicht möglich, 
daß einzelne infektiöse Krankheiten durch direkte 
üÜbertragung derartiger nicht organisierter Stoffe, 
die man Toxine oder Toxalbumine nennt, ohne 
Dazwischenkunft von Pilzen entstehen. 
So sicher es ist, daß gewisse Mikroben (mittel- 
bar oder unmittelbar) Krankheiten erregen, so 
wenig kennt man noch die näheren Umstände, unter 
denen dieses geschieht. Höchst wichtig ist es, zu 
erforschen, wie sich die Gewebe, die Zellen und 
die Säfte dem Eindringling gegenüber verhalten, 
durch welche Vorgänge im Körper die Pilze im 
Genesungsfalle vernichtet oder zurückgedrängt wer- 
  
Gesundheitspflege usw. 
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für die praktische Gesundheitspflege nutzbringend 
sein wird. Die empirische Beobachtung hatte schon 
längst gelehrt, daß gewisse Infektionskrankheiten, 
wie Pocken, Masern und andere, den Körper gegen 
neue Ansteckungen derselben Art unempfindlich 
machen. Man impfte deshalb im 18. Jahrh. die 
Menschenblattern ein (Variolation), weil die so 
künstlich erzeugten Blattern meist milder verliefen 
als die durch Ansteckung entstandenen. Diese 
Impfungen ersetzte Jenner im Jahre 1796 durch 
die Vakzination, da er beobachtet hatte, daß der 
am Euter der Kühe zuweilen vorkommende Blat- 
ternausschlag sich auf die Melkenden übertrug und 
diese vor den Menschenblattern schützte. Obgleich 
heutzutage die Schutzimpfung mit Vakzine fast 
überall ausgeübt wird und in einigen Ländern 
gesetzlich vorgeschrieben ist, hat man bisher weder 
einen spezifischen Bazillus gefunden noch ein spezi- 
sisches Gift aus der Kuhpocken= bzw. Menschen- 
pockenlymphe isolieren können. Auch das von 
Pasteur aus der Hirnsubstanz tollwütiger Hunde 
zubereitete Antirabiesgift sowie die von demselben 
Forscher und andern bei Immunisierungsversuchen 
erforschten Gifte des Milzbrandes, der Hühner- 
cholera, des Schweinerotlaufes, der Mäusesepti- 
chämie, des Nauschbrandes, Wundstarrkrampfes, 
der Diphtherie und andere konnten bisher in rei- 
nem Zustande nicht dargestellt werden. Es gelang 
aber durch Reinkultur einzelner pathogener Pilz- 
arten und durch Züchtung immer neuer Genera- 
tionen derselben oder auch durch fortgesetzte Über- 
tragung des infizierten Blutserums von einem 
Tier auf das andere schließlich eine derartige Ab- 
schwächung der infektiven Mikroben oder ihrer 
Gifte zu erzielen, daß dieselben nur noch leichte 
Krankheitserscheinungen zuwege brachten und 
dennoch den Geimpften gegen eine neue starke 
Infektion widerstandsfähig machten (immunisier- 
ten). Man erklärt dies damit, daß die einver- 
leibten Pilze oder auch nur deren Gifte gewisse 
Zellen zum Ausscheiden von Gegengiften anregen, 
so daß diese Antitoxine im Blute allmählich sich 
anhäufen und die Toxine ganz oder teilweise zer- 
stören. Auch hier ist es wieder die vergleichende 
Statistik, welche den Wert der Immunisierung 
erhärtet. So wurden 1893 im Institut Pasteur 
1648 Gebissene der Antirabiesimpfung unter- 
zogen; nur 6 derselben erlagen dennoch schließlich 
der Tollwut. Im ganzen wurden seit Eröffnung 
des Instituts bis 1900 ungefähr 25 000 Per- 
sonen geimpft. Von den Geimpften starben 0,6 % 
gegen 14—15 % zur Zeit, als noch nicht geimpft 
  
den, durch welche sie bei ungünstigem Ausgange wurde. Auch die Statistiken der Vakzination und 
obsiegen; mit andern Worten: was bedingt die der Heilserumanwendung bei Diphtheritis liefern 
Empfänglichkeit, was die Widerstandsfähigkeit des den unwiderleglichen Beweis einer erheblichen ab- 
Körpers oder einzelner seiner Organe gegen In= soluten und relativen Herabminderung der Todes- 
fektion? Seit langer Zeit schon ist das Studium fälle an Pocken und Diphtherie. Von 1890 bis 
der „Immunität“ zum Mittelpunkte bakteriolo= 1894 betrug die mittlere Sterbeziffer an Diph- 
gischer Arbeiten geworden. Das einstweilige Er= therie in Paris jährlich 1432; von 1895 bis 1899 
gebnis derselben läßt erwarten, daß diese für die (Heilserumperiode) nur mehr 354. Das Interesse 
Atiologie der Krankheiten wichtigste Frage auch des Staates an der individuellen Immunisierung
	        
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