Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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liegt auf der Hand, und er wird sich nicht seiner 
Pflicht entschlagen können, selbst bei Entdeckung 
weiterer Schutzstoffe die möglichst ausgedehnte und 
gesicherte Anwendung derselben durch Verord- 
nungen und Gesetze zu begünstigen und zu regeln, 
unter Umständen sogar zu gebieten, wenn auch zur 
Durchführung derselben ein noch weit größerer 
technischer und sanitätspolizeilicher Apparat er- 
forderlich sein würde, als ihn das Impfgesetz schon 
gezeitigt hat. 
So wichtig nun auch die individuelle Immuni- 
sierung durch künstliche Einverleibung von Schutz- 
stoffen bei Gesunden oder schon Erkrankten sein 
mag, so ist doch diejenige Immunisierung, welche 
durch Verbesserung der äußeren Lebensbedingungen 
und die dadurch erreichbare Erhöhung der indivi- 
duellen Widerstandskraft erzielt werden kann, weit 
höher zu schätzen, da sie das beste Schutzmittel 
gegen alle Krankheiten, die wir kennen, überhaupt 
ist. Namentlich auch den seuchenartigen Krank- 
heiten gegenüber ist die Widerstandskraft des ge- 
sunden Organismusnicht hoch genug anzuschlagen. 
Es darf nicht verschwiegen werden, daß in Deutsch- 
land gerade der Faktor, den die individuelle Wider- 
standskraft in den Wechselbeziehungen zwischen 
Infektion und menschlichem Organismus spielt, 
praktisch bis in die allerletzte Zeit unterschätzt wor- 
den ist. Gewiß läßt sich durch scharfe Kontrolle 
die Grenze gegen Einschleppung von Seuchen ab- 
sperren, lassen sich bestimmte Krankheiten im Lande 
durch die unten angeführten speziellen Maßregeln 
in Schranken halten; jedoch ein allein oder vor- 
zugsweise auf diese Art erzielter guter Gesundheits- 
zustand des Volkes gleicht einem durch zahlreiche 
Stützen von allen Seiten gehaltenen baufälligen 
Hause. Fällt die Stütze, läßt sich z. B. die Ab- 
sperrung nicht mehr durchführen (Krieg, Kata- 
strophen), dann wird ein solches Volk um so furcht- 
barer von Seuchen heimgesucht werden, als in- 
folge der Absperrung den Individuen nicht mehr 
die natürlichen Schutzstoffe im Blut kreisen, die 
ein infizierter Organismus aus und in sich selbst 
produziert und auf seine Nachkommen als ange- 
geborene spezifische Widerstandsfähigkeit in ge- 
  
wissem Grade überträgt. Um so mehr muß also 
ein nach den Grundsätzen der modernen speziellen 
Hygiene behütetes Volk zugleich befähigt werden, 
gegebenenfalls die nötigen Schutzstoffe bei ein- 
getretener Infektion aus eigener Kraft zu bilden, 
d. h. es muß die natürliche, allgemeine Wider- 
standsfähigkeit des Individuums auf ein größt- 
mögliches Maß gebracht werden. Eine Nicht- 
Gesundheitspflege ufw. 
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gegen krankmachende Einflüsse, als Verhinderung 
der Bildung von Seuchenherden in der Umgebung 
des Menschen erzielt wird. Anderseits spielen in 
der Entstehung von Epidemien längere Perioden 
kalter oder heißer, austrocknender, die Staubbil- 
dung fördernder Luftströmungen, oder feuchter, 
das Wachstum der Krankheitserreger begünstigen- 
der Niederschläge eine bedeutende Rolle. Auch ist 
es fast sichergestellt, daß Epidemien in manchen 
Fällen deshalb zustande kommen, weil die Lebens- 
energie der Mikroorganismen periodischen Schwan- 
kungen unterworfen ist und weil ihre Virulenz so- 
wohl nach Passieren des Tierkörpers als außerhalb 
desselben (im Boden) nach längeren Ruhepausen 
zeitweilig sich steigert. Aus diesem Grunde legte 
schon v. Pettenkofer dem Grade der Durchsetzung 
des Bodens mit organischen Stoffen und der In- 
tensität ihrer Zersetzung die größte Bedeutung bei. 
Durchlässige Latrinen, Senken, Dungstätten, die 
Schwankungen des Grundwassers, die Bewegungen 
der Grundluft nach oben sind die Faktoren, welche 
für das Entstehen von Seuchen verantwortlich zu 
machen sind. Diese „lokalistische“ Theorie ver- 
langt demnach mehr als die „kontagionistische" 
Betrachtungsweise der Bakteriologen in erster 
Linie die Assanierung von Grund und Boden 
durch Entwässerung, Entfernung der Versitzgruben, 
Senken u. dgl., Abschwemmung aller Haus-, Re- 
gen= und Wirtschaftswasser, Abfuhr der Abfall- 
stoffe aus der Nähe der menschlichen Wohnungen, 
Beschaffung guten Trinkwassers und reichlicher 
Wasserzufuhr überhaupt, um Reinlichkeit nach 
allen Richtungen hin durchführen zu können, sucht 
also eine örtliche Immunität mehr als eine indi- 
viduelle herbeizuführen und trachtet nicht nach 
unmittelbarer Bekämpfung der Ansteckungsstoffe, 
hält im Gegenteil Absperrungsmaßregeln und Des- 
infektion für überflüssig, wenn nicht gar für schäd- 
lich wegen der damit verbundenen wirtschaftlichen 
Schädigungen und der Ablenkung von der Haupt- 
sache: den hygienischen Verbesserungen des Bodens, 
der Luft, des Wassers. 
So richtig diese Erwägungen sind, so lehrt 
doch die unbefangene Prüfung gewisser Tatsachen, 
ganz besonders der großen Fortschritte, welche die 
Chirurgie gemacht hat, seitdem sie die Wunden 
vor der Berührung mit Ansteckungsstoffen zu 
schützen weiß oder verunreinigte Wunden mit 
antiseptisch wirksamen Stoffen reinigt, daß die 
Bakteriologen ebenfalls im Recht sind, wenn sie 
die Wichtigkeit der organisierten Krankheitskeime 
für die Entstehung der Krankheiten hervorheben 
DeT 
  
  
beachtung dieser grundlegenden Prinzipien müßte und Mittel zu ihrer eventuellen Vernichtung an- 
die Kulturvölker auf die Dauer gegenüber den zuwenden raten. „Kontagionisten“ und „Loka- 
Naturvölkern in einen verhängnisvollen Nachteil listen“ kommen übrigens in dem Punkte überein, 
setzen. daß beide dem Schmutze, der Unreinlichkeit, den 
Im einzelnen lehrt nun die Erfahrung, daß. Schlupfwinkeln stagnierender organischer Materie 
durch Besserung der allgemeinen sanitären Ver= über und unter der Erde, besonders in Form 
hältnisse des Bodens, der Wohnung, des Wassers, unterirdischer Sümpfe, den Krieg erklären und 
der Nahrung usw. sowohl Steigerung der indivi= die Verbesserung der äußeren Lebensverhältnisse 
duellen Gesundheit, d. h. der Widerstandsfähigkeit überhaupt als die Hauptaufgabe der öffentlichen 
 
	        
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