Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Leistung auferlegt werden soll, welche bisher nicht 
bestanden hat. Angestrebt wird vielmehr nur ein 
Durchschnittspreis, der früher längst vorhanden 
war, also eine Leistung, welche der Konsument 
bereits seit langem getragen hat, ohne den Druck 
derselben so stark zu empfinden, wie dies neuer- 
dings behauptet wird. Die ganze Frage ist im 
Prinzip als eine Frage der Verteilung des Volks- 
einkommens, des gerechten Lohnes, der ausgleichen- 
den Gerechtigkeit zu erachten. Die Form, in welcher 
diese Frage gelöst werden soll, erklärt sich aus dem 
Mangel einer genügenden Organisation der länd- 
lichen Produzenten gegenüber dem vermittelnden 
Lor- Der kapitalkräftige Handel, zumal der 
roßhandel, ist dem kapitalschwachen und geld- 
bedürftigen Verkäufer gegenüber der wirtschaftlich 
überlegene Teil, welcher die Preise bis zu einem 
gewissen Grade diktieren kann. Die verhältnis- 
mäßig geringe Zahl der Händler kann sich viel 
leichter organisieren, und schließlich stellt auch eine 
einzelne kapitalstarke Firma allein schon eine be- 
deutende Organisation dar. Demgegenüber ist 
eine Organisation der zahllosen Landwirte zur 
Vereinbarung von Mindestpreisen nach Lage der 
Sache und bei dem Mangel eines durchgreifenden 
Solidaritätsbewußtseins nur schwer oder gar nicht 
zu erreichen. Der Weg der Selbsthilfe allein führt 
darum nicht zum Ziele. Unter dem Schutze eines 
Zolles soll nicht in letzter Linie diese Organisation 
ermöglicht und gefördert werden, und wenn die 
Zeit des Zollschutzes zur Organisation benutzt 
wird, kann vielleicht in absehbarer Zeit eine solche 
Stärkung der Produzenten erzielt werden, daß 
der Zollschutz als entbehrlich wieder beseitigt oder 
wenigstens gemildert werden darf. 
Richtig ist, daß von einer Erhöhung der Ge- 
treidepreise nicht alle Landwirte unmittelbaren Vor- 
teil ziehen werden. Alle diejenigen, welche nur für 
ihren Selbstbedarf produzieren, werden die Wir- 
kungen nicht verspüren, andere, die kaufen müssen, 
werden unmittelbar sogar gleichfalls belastet sein. 
Demgegenüber muß aber festgehalten werden, daß 
gerade die getreidebauenden Gegenden am schlimm- 
sten daran sind, daher diese zunächst eine Erleichte- 
rung erfahren sollen, und daß in diesen Gegenden 
der nur für seinen Bedarf Produzierende meist noch 
auf Taglohnarbeit usw. angewiesen ist und durch 
die Schaffung günstigerer Arbeitsbedingungen am 
Vorteile des größeren Produzenten teilnimmt. Die 
Zahl derjenigen, welche tatsächlich verkaufen können, 
ist ohne Zweifel größer als die Zahl derjenigen, 
welche zur Zeit tatsächlich verkaufen, da gerade 
die niedrigen Preise vielfach zur Getreidefütterung 
geführt haben. Nicht bloß wenige Großgrund- 
besitzer, sondern eine außerordentliche Zahl grö- 
ßerer und mittlerer Landwirte können Getreide 
abgeben und deshalb an der günstigeren Preis- 
bildung teilnehmen. Je kleiner eine Wirtschaft 
ist, desto mehr fällt auch ein kleines finanzielles 
Mehrergebnis verhältnismäßig in die Wagschale. 
So kann man wohl annehmen, daß die große 
Getreidezölle. 
  
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Mehrzahl der Landwirte teils unmittelbar teils 
mittelbar von der Preiserhöhung Vorteil ziehen. 
Auch die Einwirkung auf den landwirtschaft- 
lichen Betrieb wird von den Gegnern der Zölle 
nicht zutreffend dargestellt. Es wird niemand, 
welcher den Verhältnissen des bäuerlichen Besitzes 
Aufmerksamkeit zuwendet, in Abrede stellen, daß 
noch vieles, namentlich auf dem Wege der Ge- 
nossenschaften, geschehen kann, daß insbesondere 
auch der deutsche Landwirt noch mehr zur Wirt- 
schaftlichkeit und Handhabung rationeller Betriebs- 
formen erzogen werden kann und muß. Ver- 
besserung der Wirtschaftsweise aber, sog. intensive 
Wirtschaft, Drainage, Wiesenbau usw., wird bei 
dem bäuerlichen Besitzer doch nur dann Anklang 
finden, wenn gute Preise sind und Hoffnung auf 
Dauer derselben vorhanden ist. 
3. Wirkung auf die übrige Bevöl- 
kerung. Mit der Frage der Brotverteuerung ist 
die Theorie schnell fertig. Wie sie in dem Getreide- 
preise den Zollbetrag voll zur Geltung kommen 
läßt, so auch im Brotpreise. Indessen auch hier 
entsprechen die vielfach verwickelten tatsächlichen 
Verhältnisse nicht oder doch nur in beschränktem 
Umfange den gegnerischen Behauptungen. 
Inwieweit die Schutzzölle auf die Preisbil-= 
dung einwirken, ist nicht leicht festzustellen. 
Es wird wohl ziemlich allgemein anerkannt, daß 
der Zoll von 1879 tatsächlich als Finanzzoll ge- 
wirkt hat, da vom Auslande durch den Umstand 
der günstigeren Produktionsbedingungen und die 
Möhlichkeit der Minderung der Frachtsätze eine 
Mark pro Doppelzentner unschwer überwunden 
werden konnte. Ganz ohne Unbequemlichkeit für 
den Handel dürfte freilich auch dieser niedrige Zoll. 
nicht gewesen sein und somit dem Geschäftsverkehr 
auf dem inländischen Markte gegenüber der Ein- 
fuhr einen gewissen Vorzug verschafft haben. 
Anders gestaltete sich das Verhältnis bei den 
späteren höheren Sätzen. Es wurden folgende Be- 
hauptungen aufgestellt: Die Zölle haben eine Ver- 
teuerung des eingeführten Getreides fast um die 
Höhe des Zollsatzes herbeigeführt, wie durch den 
Vergleich der deutschen Inlandspreise mit dem 
Weltmarktpreise, insbesondere bei einem Vergleich 
mit England, zu beweisen sei. Die Verteuerung 
trete aber nicht nur ein für das eingeführte, son- 
dern für sämtliches im Inlande behufs Verzehrung 
zu kaufende Getreide. Es bezahlen nach dieser 
Ansicht die Verzehrer eine ganz außerordentlich 
hohe Summe an die Landwirte. Die hohen Preise 
der Lebensmittel könnten aber verhängnisvoll wer- 
den für die Industrie, deren Arbeiter infolgedessen 
höhere Löhne als die Arbeiter der entsprechenden 
Industriezweige im Auslande beanspruchen müß- 
ten. Durch die hohen Preise sei auch die Getreide- 
ausfuhr unmöglich gemacht, da man im Auslande 
billiger verkaufen müßte als im Inlande. Da- 
durch habe namentlich der Getreidehandel in den 
nordöstlichen Provinzen Preußens statt des „na- 
türlichen“ Weges zur See ins Ausland den „künst- 
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