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Leistung auferlegt werden soll, welche bisher nicht
bestanden hat. Angestrebt wird vielmehr nur ein
Durchschnittspreis, der früher längst vorhanden
war, also eine Leistung, welche der Konsument
bereits seit langem getragen hat, ohne den Druck
derselben so stark zu empfinden, wie dies neuer-
dings behauptet wird. Die ganze Frage ist im
Prinzip als eine Frage der Verteilung des Volks-
einkommens, des gerechten Lohnes, der ausgleichen-
den Gerechtigkeit zu erachten. Die Form, in welcher
diese Frage gelöst werden soll, erklärt sich aus dem
Mangel einer genügenden Organisation der länd-
lichen Produzenten gegenüber dem vermittelnden
Lor- Der kapitalkräftige Handel, zumal der
roßhandel, ist dem kapitalschwachen und geld-
bedürftigen Verkäufer gegenüber der wirtschaftlich
überlegene Teil, welcher die Preise bis zu einem
gewissen Grade diktieren kann. Die verhältnis-
mäßig geringe Zahl der Händler kann sich viel
leichter organisieren, und schließlich stellt auch eine
einzelne kapitalstarke Firma allein schon eine be-
deutende Organisation dar. Demgegenüber ist
eine Organisation der zahllosen Landwirte zur
Vereinbarung von Mindestpreisen nach Lage der
Sache und bei dem Mangel eines durchgreifenden
Solidaritätsbewußtseins nur schwer oder gar nicht
zu erreichen. Der Weg der Selbsthilfe allein führt
darum nicht zum Ziele. Unter dem Schutze eines
Zolles soll nicht in letzter Linie diese Organisation
ermöglicht und gefördert werden, und wenn die
Zeit des Zollschutzes zur Organisation benutzt
wird, kann vielleicht in absehbarer Zeit eine solche
Stärkung der Produzenten erzielt werden, daß
der Zollschutz als entbehrlich wieder beseitigt oder
wenigstens gemildert werden darf.
Richtig ist, daß von einer Erhöhung der Ge-
treidepreise nicht alle Landwirte unmittelbaren Vor-
teil ziehen werden. Alle diejenigen, welche nur für
ihren Selbstbedarf produzieren, werden die Wir-
kungen nicht verspüren, andere, die kaufen müssen,
werden unmittelbar sogar gleichfalls belastet sein.
Demgegenüber muß aber festgehalten werden, daß
gerade die getreidebauenden Gegenden am schlimm-
sten daran sind, daher diese zunächst eine Erleichte-
rung erfahren sollen, und daß in diesen Gegenden
der nur für seinen Bedarf Produzierende meist noch
auf Taglohnarbeit usw. angewiesen ist und durch
die Schaffung günstigerer Arbeitsbedingungen am
Vorteile des größeren Produzenten teilnimmt. Die
Zahl derjenigen, welche tatsächlich verkaufen können,
ist ohne Zweifel größer als die Zahl derjenigen,
welche zur Zeit tatsächlich verkaufen, da gerade
die niedrigen Preise vielfach zur Getreidefütterung
geführt haben. Nicht bloß wenige Großgrund-
besitzer, sondern eine außerordentliche Zahl grö-
ßerer und mittlerer Landwirte können Getreide
abgeben und deshalb an der günstigeren Preis-
bildung teilnehmen. Je kleiner eine Wirtschaft
ist, desto mehr fällt auch ein kleines finanzielles
Mehrergebnis verhältnismäßig in die Wagschale.
So kann man wohl annehmen, daß die große
Getreidezölle.
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Mehrzahl der Landwirte teils unmittelbar teils
mittelbar von der Preiserhöhung Vorteil ziehen.
Auch die Einwirkung auf den landwirtschaft-
lichen Betrieb wird von den Gegnern der Zölle
nicht zutreffend dargestellt. Es wird niemand,
welcher den Verhältnissen des bäuerlichen Besitzes
Aufmerksamkeit zuwendet, in Abrede stellen, daß
noch vieles, namentlich auf dem Wege der Ge-
nossenschaften, geschehen kann, daß insbesondere
auch der deutsche Landwirt noch mehr zur Wirt-
schaftlichkeit und Handhabung rationeller Betriebs-
formen erzogen werden kann und muß. Ver-
besserung der Wirtschaftsweise aber, sog. intensive
Wirtschaft, Drainage, Wiesenbau usw., wird bei
dem bäuerlichen Besitzer doch nur dann Anklang
finden, wenn gute Preise sind und Hoffnung auf
Dauer derselben vorhanden ist.
3. Wirkung auf die übrige Bevöl-
kerung. Mit der Frage der Brotverteuerung ist
die Theorie schnell fertig. Wie sie in dem Getreide-
preise den Zollbetrag voll zur Geltung kommen
läßt, so auch im Brotpreise. Indessen auch hier
entsprechen die vielfach verwickelten tatsächlichen
Verhältnisse nicht oder doch nur in beschränktem
Umfange den gegnerischen Behauptungen.
Inwieweit die Schutzzölle auf die Preisbil-=
dung einwirken, ist nicht leicht festzustellen.
Es wird wohl ziemlich allgemein anerkannt, daß
der Zoll von 1879 tatsächlich als Finanzzoll ge-
wirkt hat, da vom Auslande durch den Umstand
der günstigeren Produktionsbedingungen und die
Möhlichkeit der Minderung der Frachtsätze eine
Mark pro Doppelzentner unschwer überwunden
werden konnte. Ganz ohne Unbequemlichkeit für
den Handel dürfte freilich auch dieser niedrige Zoll.
nicht gewesen sein und somit dem Geschäftsverkehr
auf dem inländischen Markte gegenüber der Ein-
fuhr einen gewissen Vorzug verschafft haben.
Anders gestaltete sich das Verhältnis bei den
späteren höheren Sätzen. Es wurden folgende Be-
hauptungen aufgestellt: Die Zölle haben eine Ver-
teuerung des eingeführten Getreides fast um die
Höhe des Zollsatzes herbeigeführt, wie durch den
Vergleich der deutschen Inlandspreise mit dem
Weltmarktpreise, insbesondere bei einem Vergleich
mit England, zu beweisen sei. Die Verteuerung
trete aber nicht nur ein für das eingeführte, son-
dern für sämtliches im Inlande behufs Verzehrung
zu kaufende Getreide. Es bezahlen nach dieser
Ansicht die Verzehrer eine ganz außerordentlich
hohe Summe an die Landwirte. Die hohen Preise
der Lebensmittel könnten aber verhängnisvoll wer-
den für die Industrie, deren Arbeiter infolgedessen
höhere Löhne als die Arbeiter der entsprechenden
Industriezweige im Auslande beanspruchen müß-
ten. Durch die hohen Preise sei auch die Getreide-
ausfuhr unmöglich gemacht, da man im Auslande
billiger verkaufen müßte als im Inlande. Da-
durch habe namentlich der Getreidehandel in den
nordöstlichen Provinzen Preußens statt des „na-
türlichen“ Weges zur See ins Ausland den „künst-
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