Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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lichen“ Weg auf Flüssen und Eisenbahnen ins 
Inland genommen. 
Es wurde empfohlen, ebenso wie dies zum Vor- 
teile der Mühlenfabrikate bereits geschehen war, so 
auch für den ganzen Getreidehandel den „Iden- 
titätsnachweis“ aufzuheben, d. h. zu gestatten, daß 
nicht nur tatsächlich und nachweislich eingeführtes 
Getreide zollfrei bleibt, wenn es wieder ausge- 
führt wird, sondern daß für jedes Quantum aus- 
geführtes Getreide ein entsprechendes Quantum 
Getreide zollfrei eingeführt werden darf, indem 
man entweder den Zoll bei der Ausfuhr von seiten 
des Staates zahlt, von der Annahme ausgehend, 
daß ein entsprechendes Quantum notwendig wieder 
eingeführt werden müsse und dadurch der also vom 
Staate gezahlte Zollbetrag wieder einkomme, oder 
in gemäßigterer Weise, daß für ausgeführtes Ge- 
treide Scheine ausgegeben werden, auf Grund 
deren das entsprechende Quantum zgollfrei einge- 
führt werden könnte. In der Folge wurde auch 
im Jahre 1894 der sog. Identitätsnachweis auf- 
gehoben und werden nunmehr für jedes exportierte 
Getreidequantum Scheine ausgestellt, welche zur 
zollfreien Einfuhr einer entsprechenden Getreide- 
menge berechtigen. 
Schließlich muß auch noch darauf hingewiesen 
werden, daß, wenn schon die Unmittelbarkeit des 
Einflusses der Zölle auf den Preis des Getreides 
mit einem gewissen Vorbehalt und namentlich nur 
neben andern, teilweise noch einflußreicheren Um- 
ständen zuzugeben ist, der Einfluß auf den Brot- 
preis, auf die Form, in welcher das Getreide als 
Nahrungsmittel in den Handel kommt, nur unter 
noch weiteren Einschränkungen eingeräumt werden 
kann. Wie die Verschiedenheit der Getreidepreise 
an verschiedenen Orten des Inlandes hervortreten 
läßt, daß verschiedenartige Umstände bei dem 
Preise des Getreides einwirken, so zeigen die 
Preisunterschiede oder Gewichtsunterschiede des 
Brotes innerhalb derselben Stadt, daß auch hier 
weitere Verhältnisse bei der Preisbildung mit- 
wirken. Allgemein ist die Beobachtung, daß stark 
fallenden Getreidepreisen der Brotpreis nur sehr 
zögernd nachgibt, während bei früheren Getreide- 
preissteigerungen die Brotpreise williger aufwärts 
folgten. 
Auch der Gedanke ist nicht von vornherein von 
der Hand zu weisen, daß der Zwischenhandel 
möglicherweise gezwungen wird, höhere Preise zu 
bezahlen, ohne gleichzeitig die Macht zu besitzen, 
die Mehrausgaben in ihrem vollen Betrage auf 
den Konsumenten überzuwälzen, um so mehr als 
sich die Preisschwankungen erfahrungsgemäß zu- 
nächst im Großhandel geltend machen, während 
der Detailhandel nur zögernd und schwer der ver- 
änderten Preisgestaltung sich anpaßt. Welche der 
angedeuteten Wirkungen im gegebenen Falle ein- 
treten werden, läßt sich nicht genau übersehen, da 
die bestimmenden Faktoren nicht festgelegt sind, 
sondern in dauerndem Flusse sich befinden. Sicher- 
lich ist das Problem, das der Lösung harrt, ein 
Getreidezölle. 
  
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äußerst schwieriges und folgenschweres, und es 
wird kaum möglich sein, eine Form der Lösung 
zu finden, welche annähernd jede nicht gewollte 
Wirkung zu vermeiden und die vielen Interessenten 
vollkommen zu versöhnen vermag. 
Wenrn auch eine stärkere Belastung der indu- 
striellen Kreise im Verhältnis zur unmittelbar 
vorhergehenden Periode sich ergeben muß, so darf 
doch anderseits nicht vergessen werden, daß dieser 
Nachteil durch andere Momente gemildert wird. 
Die gesteigerte Kaufkraft der ländlichen Bevöl- 
kerung wird eine größere Aufnahmefähigkeit der- 
selben für industrielle Produkte mit sich bringen, 
die Arbeiterschaft wird durch den zu erwartenden 
Stillstand der Landflucht oder vielleicht sogar durch 
Abfluß städtischer Arbeitskräfte auf das Land in 
einer günstigeren Gestaltung des Arbeitsmarktes 
einigermaßen entschädigt werden. Der durch die 
Steigerung der Zolleinnahmen sich ergebende 
Mehrbetrag der Reichseinnahmen wird endlich der 
Allgemeinheit durch Verwendung für soziale Ein- 
richtungen wieder zugeführt. Schließlich ist nicht 
anzunehmen, daß der Zoll seiner ganzen Höhe 
nach vom Inlande getragen wird, da eine Ab- 
wälzung auf das Ausland möglich ist, daß sohin 
eine Steigerung der Preise nicht um die ganze 
Zollhöhe zu erwarten ist, und daß eine Preis- 
steigerung gegenüber dem Weltmarktpreise nicht 
der ganzen Differenz nach auf Kosten des Zolles 
zu setzen ist, sondern daß die sich ergebende Diffe- 
renz auch durch den Druck auf den Weltmarkt- 
preis, wie er sich durch Verminderung der Gesamt- 
nachfrage erklärt, vergrößert wird. 
4. Geschichtlicher Uberblick. Die Ge- 
treidehandelspolitik der deutschen Staaten war bis 
zu der Errichtung des Zollvereins sehr zersplittert. 
Sie findet ihren Ausdruck wesentlich in der Ent- 
wicklung, welche die Frage in den Städten ge- 
nommen hat. Hauptaufgabe war durchweg die 
Befriedigung des im Innern der Städte oder 
Staaten bzw. der einzelnen Landesteile hervor- 
tretenden Bedürfnisses an Verbrauchsgetreide. 
Letzteres soll in hinreichender Menge und zu bil- 
ligen Preisen vorhanden sein. Kein Getreide 
durfte anders verkauft werden als auf dem Markte 
der Stadt. Alles Vorherverkaufen oder Aufkaufen 
war untersagt; die Städte nahmen das Recht in 
Anspruch, daß sich das platte Land ihren Bedürf- 
nissen unterordne. Auf dem Markte durften bis zu 
bestimmten Stunden nur die Bürger ihren eigenen 
Bedarf einkaufen. Erst in späterer Stunde kam der 
Handel des einheimischen Kaufmanns. Neben der 
Befriedigung des lokalen Bedürfnisses durch die 
vielen Lokalmärkte trat in einem Teil der größeren 
Städte das Handelsinteresse hervor: Ausfuhr-= 
und Durchfuhrhandel. Insbesondere ist diese Ge- 
staltung der Handelsverhältnisse neben der Für- 
sorge für das Gemeinwesen zu beobachten beie 
Handelsplätzen wie Stettin, Hamburg usw. 
Diepreußischen Könige, namentlich Friedrich II., 
suchten die Höhe des Getreidepreises durch Ma-
	        
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