Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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I. Wegriff. Unter Gewerbe im weiteren Sinn 
des Wortes versteht man jede den Erwerbbezweckende 
berufsmäßige Tätigkeit (z. B. auch Landwirtschafts-, 
Handels-, Transportgewerbe). In dem engeren, 
hier in Betracht kommenden Sinne dagegen ist 
Gewerbe diejenige berufsmäßige Erwerbstätigkeit, 
welche mit der Bearbeitung von Rohstoffen behufs 
Herstellung neuer oder Verbesserung schon vorhan- 
dener Sachgüter sich befaßt, anderseits der diese 
Tätigkeit umfassende Produktionszweig der Volks- 
wirtschaft. Gewerbe im engeren Sinne ist also 
wohl zu unterscheiden von der sog. Urproduk- 
tion (Land= und Forstwirtschaft, Jagd und 
Fischerei, Tierzucht, Bergbau, Gräberei), obwohl 
in vielen Fällen gewerbliche Produktion im engeren 
Sinne mit Urproduktion enge verbunden ist (3. B. 
Verarbeitung der Milch zu Butter, zu Käse). In- 
des faßt der übliche Sprachgebrauch in der Regel 
die mit der Urproduktion eng verbundene erste rohe 
Bearbeitung der gewonnenen Erzeugnisse nicht 
unter den Begriff Gewerbe im engeren Sinne, 
wenn auch tatsächlich die betreffende Tätigkeit 
unter diesen Begriff fällt. Zu unterscheiden ist fer- 
ner von Gewerbe im engeren Sinne diejenige be- 
rufsmäßige Erwerbstätigkeit, welche der volks- 
wirtschaftlichen Verteilung dient, nämlich der 
Handel, das Transport= und Bankwesen, des- 
gleichen das Versicherungswesen und die persön- 
lichen Dienstleistungen. Von den letzteren werden 
freilich die niederen vielfach zum Gewerbe im 
engeren Sinne gerechnet. Die Abgrenzung dieses 
Begriffes ist nach alledem keine scharfe und all- 
gemein feststehende. 
Ziemlich übereinstimmend mit obiger Erklärung, 
jedoch etwas genauer definiert G. Schmoller den 
Gewerbe ufw. 
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üblichen Sprachgebrauch wohl die beiden erstge- 
nannten Definitionen für Gewerbe im engeren 
Sinne mehr entsprechen. — Wenn dagegen in 
einem besondern Sinne noch vielfach „Gewerbe“ 
als gleichbedeutend mit „Handwerk“ im Gegensatz 
zu „Industrie“ genommen wird, so ist dies eine 
mißbräuchliche Bezeichnung, da die Industrie nicht 
nur den Groß-, sondern auch den Kleinbetrieb, 
also auch das Handwerk umfaßt; Gewerbe im 
engeren Sinne kann also vielmehr mit dem Worte 
Industrie als gleichbedeutend betrachtet werden. 
II. Geschichtliche Entwicklung. Wenn man 
in der Entwicklung dieses Gewerbes im engeren 
Sinne zurückgeht, wird man am richtigsten mit 
K. Bücher, dem wir folgen, fünf Entwicklungs- 
stufen unterscheiden: Hauswerk oder Hausfleiß, 
Lohnwerk, Handwerk im engeren Sinne (Preis- 
werk), Verlag (Hausindustrie) und Fabrik. Damit 
soll keineswegs gesagt sein, daß wir in diesen 
Entwicklungsstufen fünf scharf voneinander ab- 
gegrenzte, aufeinanderfolgende Perioden der ge- 
samten gewerblichen Produktionsgestaltung zu er- 
blicken hätten, ebensowenig wie dieselben in der 
Gewerbegeschichte aller einzelnen Völker genau zu 
verfolgen sind. Aber es wird hierdurch die na- 
turgemäße Entwicklung und allmähliche Vervoll- 
kommnung der gewerblichen Produktion im all- 
gemeinen wohl treffend bezeichnet, wie sie sich von 
den Urzeiten eines Naturvolkes an mit zunehmender 
Kultur nach und nach, sofern nicht äußere Einflüsse 
der Entwicklung vorgreifen, steigert und — ver- 
vielfacht. Das wirtschaftlich vollkommenere Be- 
triebssystem trägt zwar stets den Sieg über die 
minder vollkommenen davon und verdrängt diese 
zum Teil, aber nicht vollständig. 
In der Geschichte der europäischen Kulturvölker 
  
Begriff der gewerblichen Tätigkeit als denjenigen 
Teil der wirtschaftlichen Produktion, welcher auf lassen sich diese fünf gewerblichen Entwicklungs- 
Formveränderung von Rohstoffen und Dienst= stufen am deutlichsten verfolgen. Ursprünglichfinden 
leistungen persönlicher Art gerichtet, durch beson= wir überall nur den sog. Hausfleiß (Hauswerk), 
dere Berufsbildung und Arbeitsteilung aus der gewerbliche Arbeit aus selbsterzeugten Rohstoffen 
Haus= und Landwirtschaft geschieden, nicht zu dem im Hause und zunächst auch lediglich für das Haus, 
Handel und Verkehr und den höheren persönlichen d. h. für den Selbstbedarf der einzelnen Wirt- 
Dienstleistungen (liberalen Berufen) gerechnet schaftsgemeinschaft (Herstellung von Geräten, Ge- 
wird. — K. Bücher gibt dem Begriff Gewerbe im fäßen, Kleiderstoffen usw.). Dieses Hauswerk wird 
engeren Sinne wieder eine umfassendere Erklä- entweder nur von den Hausgenossen, insbesondere 
rung, indem er es als denjenigen Teil der Pro= den Frauen, besorgt oder unter Mithilfe von in 
duktion bezeichnet, welcher in der Formverände- 
rung von Rohstoffen bestehend die wirtschaftliche 
Seite der (mechanischen oder chemischen) Stoff- 
umwandlung oder Stoffveredlung darstellt. Ohne 
auf das mehr oder minder Zutreffende dieser ver- 
schiedenen Begriffsbestimmungen einzugehen und 
zu untersuchen, inwiefern Bücher auf Grund seiner 
sorgfältigen Forschungen über die Entwicklung der 
Volkswirtschaft und die Entstehung der gewerb- 
lichen Produktion berechtigt ist zu seiner Erklärung, 
die also auch die noch nicht als berufsmäßige Er- 
die Hausgemeinschaft ausgenommenen Unfreien 
(Sklaven usw.). Es entwickelt sich dann, nament- 
lich auch unter dem Einfluß der Sippenverfassung, 
der Sklaven= oder der Fronhofswirtschaft, eine 
zunehmende Spezialisierung der Arbeit und in- 
folgedessen eine mehr berufsmäßige Ausbildung 
einzelner in verschiedenen gewerblichen Fertigkeiten. 
Arbeitsteilung und vermehrte Produktion werden 
hierdurch gefördert; es kommt hinzu, daß die Pro- 
duktionsbedingungen für bestimmte gewerbliche 
Erzeugnisse in dem einen Gebiete günstiger liegen 
werbstätigkeit sich darstellende, von der Urproduk= wie im andern. Der einzelnen geschlossenen Haus- 
tion noch nicht losgelöste Stoffumwandlung pri= wirtschaft eröffnet sich damit von selbst die Bahn, 
mitiver Völker als Gewerbe im engeren Sinne Überschüsse als Tauschmittel zu verwenden, um 
betrachtet, kann man jedenfalls feststellen, daß dem mit denselben — direkt oder in späterer Zeit in-
	        
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