Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Dekrete vom 11. Juni 1809, vom 28. Febr., 
3. Aug. und 5. Sept. 1810. Durch dieselben 
wurden die Urteile der conseils bis zu einer Höhe 
von 100 Francs ohne Berufung für endgültig er- 
klärt; bei höherer Streitsumme ging die Berufung 
an das Handelsgericht, und wo kein solches be- 
stand, ans Landgericht. Bis zu einer Höhe von 
300 Francs wurden die Urteile ohne Bürgschafts- 
stellung, bei größerer Höhe gegen entsprechende 
Bürgschaftsstellung für vorläufig vollstreckbar er- 
klärt. Auch erhielten die conseils eine Straf- 
gerichtsbarkeit bis zu drei Tagen Gefängnis für 
grobe Vergehen der Arbeiter und Lehrlinge gegen 
ihre Meister oder für Verschuldung von Unord- 
nung in den Werkstätten. 
In dieser Form fanden die Gewerbegerichte 
auch Eingang in das damals von den Franzosen 
weggenommene Rheinland, wo zunächst Räte der 
Gewerbeverständigen in Aachen, Krefeld und 
Köln, und nach der Vertreibung der Franzosen 
und der Vereinigung mit Preußen, welches die 
geltende französische Gesetzgebung in diesem Punkte 
unberührt ließ, unter dem Namen „Fabriken- 
gerichte“ noch eine ganze Reihe anderer ent- 
standen. Die königliche Verordnung vom 7. Aug. 
1846 gab ihnen den Namen „Königliche Ge- 
werbegerichte“ und traf einige weitere Be- 
stimmungen für sie. Doch verloren sie allmählich 
ihre Befugnisse außer der Vergleichsvermittlung 
und Rechtsprechung in gewerblichen Streitigkeiten. 
Gleichartige Gewerbegerichte bestanden in Elsaß- 
Lothringen, als es 1871 wieder mit Deutschland 
vereinigt wurde. Diese wurden durch ein Gesetz 
vom 23. März 1880 den neuzeitlichen Anforde- 
rungen entsprechend weitergebildet. Das Reichs- 
Gerichtsverfassungsgesetz von 1877 ließ sie be- 
stehen, indem § 14 die Gewerbegerichte als „be- 
sondere Gerichte“ zuließ. 
Diese rheinischen und elsaß-lothringischen Ge- 
werbegerichte hatten sich durchaus bewährt und 
erfreuten sich gleicher Beliebtheit bei den Fabri- 
kanten wie bei den Arbeitern. Trotzdem schlug 
eine Anzahl von Versuchen, auch in andern Teilen 
Preußens und in andern deutschen Bundesstaaten 
äahnliche Einrichtungen ins Leben zu rufen, gänz- 
lich fehl, vorwiegend infolge der Gleichgültigkeit 
und selbst des Widerstrebens der beteiligten Kreise. 
Eine weitere Gruppe solcher Versuche knüpfte sich 
an die preußische Gewerbeordnung von 1845, die 
Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund von 
1869 und die endgültige Gewerbeordnung für das 
Deutsche Reich in der Fassung von 1900 (vgl. d. 
Art. Gewerbe). Die letztere brachte die Bestim- 
mung: „Streitigkeiten der selbständigen Gewerbe- 
treibenden mit ihren Arbeitern, die auf den An- 
tritt, die Fortsetzung oder Aufhebung des Arbeits- 
verhältnisses, auf die gegenseitigen Leistungen aus 
demselben, auf die Erteilung oder den Inhalt der 
Arbeitsbücher oder Zeugnisse sich beziehen, sind, 
soweit für diese Angelegenheiten besondere Behör- 
den bestehen, bei diesen zur Entscheidung zu 
  
Gewerbegerichte. 718 
bringen. Insoweit solche besondere Behörden nicht 
bestehen, erfolgt die Entscheidung durch die Ge- 
meindebehörde. Gegen diese Entscheidung steht 
die Berufung auf den Rechtsweg binnen zehn 
Tagen offen; die vorläufige Vollstreckung wird 
durch die Berufung nicht aufgehalten. Durch 
Ortsstatut können an Stelle der gegenwärtig hier- 
für bestimmten Behörden Schiedsgerichte mit der 
Entscheidung betraut werden. Dieselben sind durch 
die Gemeindebehörden mit gleichmäßiger Zuzie- 
hung von Arbeitgebern und Arbeitern zu bilden.“ 
Auf Grund dieser Vorschrift wurden nach und nach 
im ganzen 74 gemeindliche Schiedsgerichte 
errichtet, welche, durch Statuten geregelt, im ein- 
zelnen vielfach voneinander abwichen. Doch brach- 
ten sie keine Befriedigung des Bedürfnisses, weder 
durch ihre Zahl noch durch ihre Tätigkeit. Ebenso- 
wenig bewährten sich die Innungsschieds- 
gerichte in dem Maße, wie man es erwarten. 
und wünschen mußte. Die Innungsnovelle vom 
18. Juli 1881 hatte in § 97 der Gewerbeordnung 
den neu zu bildenden Innungen die Aufgabe ge- 
stellt, Streitigkeiten der im § 120 a bezeichneten 
Art zwischen den Innungsmitgliedern und ihren 
Lehrlingen an Stelle der Gemeindebehörde zu 
entscheiden, und ihnen in § 97a die Befugnis 
erteilt, Schiedsgerichte zu errichten, welche be- 
rufen sind, Streitigkeiten der im § 120 a bezeich- 
neten Art zwischen Innungsmitgliedern und ihren 
Gesellen an Stelle der sonst zuständigen Behörden 
zu entscheiden. An der Erledigung der Streitig- 
keiten beteiligten sich alle Innungen; von der letz- 
teren Befugnis machten nur äußerst wenige Ge- 
brauch, obwohl ein gewerbliches Schiedsgericht 
gerade erst in Anlehnung an eine gewerbliche 
Körperschaft seine eigenste Bedeutung erlangt und 
dieser Körperschaft selbst hinwieder zur innern Fe- 
stigung und Stärkung nach außen dienen kann. 
Nach mehrfachen Anläufen im deutschen Reichstag 
gelang es endlich, ein Gesetz zustande zu bringen, 
das für ganz Deutschland eine durchgreifende, ein- 
heitliche Ordnung dieses Rechtsgebiets durchführt. 
2. Das deutsche Reichsgesetz vom 29. Juli 
1890 (wirksam vom 1. April 1891), betreffend 
die Gewerbegerichte, gibt den Gemeinden 
und weiteren Kommunalverbänden das Recht, für 
ihren Bezirk und auf ihre Kosten durch Ortsstatut 
Gewerbegerichte zu errichten. Dieselben bestehen 
aus einem Vorsitzenden bzw. dessen Stellvertreter, 
welche weder Arbeiter noch Arbeitgeber sein dürfen 
und vom Magistrat oder der Gemeindevertretung 
unter landesherrlicher Genehmigung gewählt wer- 
den, sowie aus einer geraden Zahl von (mindestens 
vier) Beisitzern, welche zur Hälfte aus den Arbeit- 
gebern, zur Hälfte aus den Arbeitern entnommen 
sein müssen und je von den Arbeitgebern oder 
Arbeitern in unmittelbarer und geheimer Wahl 
gewählt werden. Die Einzelheiten der Wahl sind 
durch das Ortsstatut zu bestimmen. Das Amt 
des Vorsitzenden und seines Stellvertreters kann 
entgeltlich sein. Das Amt der Beisitzer ist ein
	        
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