Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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die bestehenden landesgesetzlichen, nament- 
lich also die rheinischen und elsaß-lothringischen 
Gewerbegerichte bleiben erhalten, sofern sie einer 
Anderung in ihrer Zusammensetzung den Be- 
stimmungen des Reichsgesetzes entsprechend unter- 
worfen werden. Über die für den Bergbau 
bestimmten Gewerbegerichte sind einige besondere 
Bestimmungen getroffen. Dieselben werden nicht 
von den Gemeinden, sondern durch die Berg- 
behörden errichtet. 
Die Errichtung der Gewerbegerichte bedeutet 
für Deutschland einen wesentlichen sozialen Fort- 
schritt. Zum erstenmal hat das Gesetz die Arbeiter 
zur Teilnahme an der Rechtsprechung über ge- 
werbliche Streitigkeiten herangezogen. Es hat in 
den Gewerbegerichten die Vertreter der Arbeit- 
nehmer den Vertretern der Arbeitgeber völlig 
gleichgestellt und dadurch die grundsätzliche Gleich- 
berechtigung beider Stände anerkannt. Für den 
Stand der Arbeiter bedeutet das Gewerbege- 
richt einen großen wirtschaftlichen Fortschritt, in- 
dem es für ihn die grundsätzliche Gleichheit aller 
vor dem Gesetz dadurch zur Wahrheit machte, 
daß es ein Verfahren schuf, dessen Lasten und 
Kosten der Arbeiter bei Verfolgung seines Rechts 
nicht zu scheuen braucht. Wie aus dem gleich- 
zeitigen Einbringen des Gesetzes im Reichstage 
mit der Arbeiterschutznovelle hervorgeht, ist das 
Gesetz gedacht als ein Teil des damals in Angriff 
genommenen sozialen Reformwerkes. Es hat in 
dieser Beziehung die Aufgabe, die Rechtspflege auf 
gewerblichem Gebiet so zu gestalten, daß Arbeit- 
geber und Arbeiter zunächst durch gemeinschaft- 
liches Arbeiten sich wieder mehr verstehen und 
dann über die ihnen unterbreiteten Rechtsfragen 
sich verständigen lernen. Es soll auf diese Weise 
eine Rechtsprechung erzielt werden, welche die be- 
rechtigten Interessen der Arbeitgeber und Arbeiter 
versöhnt, dem Arbeiter die Gewähr unparteischer 
Entscheidung gibt und dem Arbeitgeber wie dem 
Arbeiter die Einsicht vermittelt, wo seine selbst- 
süchtigen Interessen vor den Grundsätzen von Recht 
und Billigkeit Halt machen müssen. 
Auch in prozessualischer Beziehung stellt das 
Gesetz sich als ein Reformgesetz dar. Das Ver- 
fahren ist gegenüber dem amtsgerichtlichen Ver- 
fahren erheblich vereinfacht und verbilligt. Inso- 
fern kann das gewerbegerichtliche Verfahren nicht 
verfehlen, bei der bevorstehenden Umgestaltung des 
amtsgerichtlichen Verfahrens entsprechend beachtet 
zu werden, wie dies in dem veröffentlichten Ent- 
wurfe auch geschehen ist. Angesichts der bisherigen 
Erfahrungen ist nicht abzusehen, warum nur die 
gewerblichen Streitigkeiten die mannigfaltigen 
Erleichterungen genießen sollen, welche das Gesetz 
ihnen gewährt. Wenn die Zivilprozeßordnung den 
amtsgerichtlichen Prozeß dem praktischen Bedürf- 
nis entgegen viel zu eng an die Formen und Regeln 
des landgerichtlichen Prozesses anschloß, so ist hier 
gezeigt, wie man das Verfahren der Eigenart klei- 
nerer Rechtsstreitigkeiten besser anpassen kann. 
Gewerbegerichte. 
  
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Als reformbedürftig erwiesen sich in erster Linie 
die Vorschriften über die Wahl der Beisitzer. Es 
ließ sich nicht verhüten, daß die politischen Partei- 
verhältnisse in die Wahl hineingezogen wurden. 
Dies führte zum Verlangen eines Proportional- 
wahlsystems, nach welchem jede Partei unter den 
Beisitzern nach dem Verhältnis der für sie ab- 
gegebenen Stimmen vertreten sein sollte. Auch eine 
genauere Abgrenzung der Zuständigkeit der Ge- 
werbegerichte erwies sich als erwünscht, da Zu- 
ständigkeitsstreitigkeiten vor ihnen einen breiten 
Raum einnahmen. Diese und andere Wünsche 
wurden erfüllt durch das Meichsgefet vom 
30. Juni 1901 (in Kraft seit 1. Jan. 1902). 
Es macht die Gewerbegerichte in allen Städten 
über 20 000 Einwohner obligatorisch; für die 
Wahl der Beisitzer ist eine Reglung nach den 
Grundsätzen der Verhältniswahl durch das Statut 
zugelassen; die Bestimmungen über die Funktion 
als Einigungsamt bei sozialen Streitigkeiten sind 
ausgestaltet und verschärft; das Gewerbegericht 
ist für nicht zuständig erklärt, wenn bei der Strei- 
tigkeit ausschließlich Innungsmitglieder und deren 
Arbeiter beteiligt sind und für die Innung ein 
besonderes Einigungsamt besteht; rufen aber beide 
Teile das Gewerbegericht an, so ist dieses zustän- 
dig. Trotz der Ermächtigung in Art. 3 dieses Ge- 
setzes steht die neue Fassung des Textes des Ge- 
werbegerichtsgesetzes immer noch aus. 
Die Gewerbegerichte haben sich bis heute durch- 
aus bewährt, wenn auch selbstredend immer noch 
Verbesserungswünsche bleiben. 
Im Jahre 1906 gab es im Deutschen Reich 418 
(1905: 406) Gewerbegerichte, unter diesen 7 Berg- 
gewerbegerichte und 19 landesgesetzliche Gewerbe- 
gerichte gemäß § 85 des Gewerbegerichtsgesetzes. 
117 385 (1905: 110 604) Klagen waren rechts- 
hängig geworden, unter diesen 106 260 (1905: 
102 240) von Arbeitern gegen Arbeitgeber, 10 774 
(1905:7980) von Arbeitgebern gegen Arbeiter, 351 
(1905: 384) zwischen Arbeitern desselben Arbeit- 
gebers. Der Wert des Streitgegenstandes betrug 
in 55 612 (1905: 50 934) Fällen bis zu 20 M, in 
34 023 (1905: 34640) bis zu 50 M, in 14 849 
(1905: 14 302) bis zu 100 M und in 8150 (1905: 
7289) Fällen über 100 M. Von den rechtshängigen 
Streitsachen wurden erledigt durch Vergleich 49596 
(1905: 48.066), durch Verzicht 2475 (1905:2775), 
durch Anerkenntnis 1873 (1905: 1818), durch Ver- 
säumnisurteil 11 939 (1905: 11 252), durch andere 
Endurteile 19 516 (1905: 17756). In 5846 
(1905: 5580) Fällen dauerte der Rechtsstreit bis 
zum Erlaß des Endurteils weniger als eine Woche, 
in 6186 (1905: 5454) bis zu zwei Wochen, in 
4838 (1905: 4375) bis zu einem Monat, in 2241 
(1905: 2041) bis zu drei Monaten und in 405 
(1905: 306) Fällen mehr als drei Monate. Die 
Zahl der Berufungen gegen die Endurteile der Ge- 
werbegerichte stieg von 480 im Jahre 1905 auf 553 
im Jahre 1906. Als Einigungsämter traten sie in 
Tätigkeit in 253 (1905: 165) Fällen auf Anrufung 
von beiden Seiten, in 6 (1905: 10) nur seitens der 
Arbeitgeber und in 234 (1905; 175) Fällen nur 
seitens der Arbeiter. Eine Vereinbarung kam zu-
	        
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