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die bestehenden landesgesetzlichen, nament-
lich also die rheinischen und elsaß-lothringischen
Gewerbegerichte bleiben erhalten, sofern sie einer
Anderung in ihrer Zusammensetzung den Be-
stimmungen des Reichsgesetzes entsprechend unter-
worfen werden. Über die für den Bergbau
bestimmten Gewerbegerichte sind einige besondere
Bestimmungen getroffen. Dieselben werden nicht
von den Gemeinden, sondern durch die Berg-
behörden errichtet.
Die Errichtung der Gewerbegerichte bedeutet
für Deutschland einen wesentlichen sozialen Fort-
schritt. Zum erstenmal hat das Gesetz die Arbeiter
zur Teilnahme an der Rechtsprechung über ge-
werbliche Streitigkeiten herangezogen. Es hat in
den Gewerbegerichten die Vertreter der Arbeit-
nehmer den Vertretern der Arbeitgeber völlig
gleichgestellt und dadurch die grundsätzliche Gleich-
berechtigung beider Stände anerkannt. Für den
Stand der Arbeiter bedeutet das Gewerbege-
richt einen großen wirtschaftlichen Fortschritt, in-
dem es für ihn die grundsätzliche Gleichheit aller
vor dem Gesetz dadurch zur Wahrheit machte,
daß es ein Verfahren schuf, dessen Lasten und
Kosten der Arbeiter bei Verfolgung seines Rechts
nicht zu scheuen braucht. Wie aus dem gleich-
zeitigen Einbringen des Gesetzes im Reichstage
mit der Arbeiterschutznovelle hervorgeht, ist das
Gesetz gedacht als ein Teil des damals in Angriff
genommenen sozialen Reformwerkes. Es hat in
dieser Beziehung die Aufgabe, die Rechtspflege auf
gewerblichem Gebiet so zu gestalten, daß Arbeit-
geber und Arbeiter zunächst durch gemeinschaft-
liches Arbeiten sich wieder mehr verstehen und
dann über die ihnen unterbreiteten Rechtsfragen
sich verständigen lernen. Es soll auf diese Weise
eine Rechtsprechung erzielt werden, welche die be-
rechtigten Interessen der Arbeitgeber und Arbeiter
versöhnt, dem Arbeiter die Gewähr unparteischer
Entscheidung gibt und dem Arbeitgeber wie dem
Arbeiter die Einsicht vermittelt, wo seine selbst-
süchtigen Interessen vor den Grundsätzen von Recht
und Billigkeit Halt machen müssen.
Auch in prozessualischer Beziehung stellt das
Gesetz sich als ein Reformgesetz dar. Das Ver-
fahren ist gegenüber dem amtsgerichtlichen Ver-
fahren erheblich vereinfacht und verbilligt. Inso-
fern kann das gewerbegerichtliche Verfahren nicht
verfehlen, bei der bevorstehenden Umgestaltung des
amtsgerichtlichen Verfahrens entsprechend beachtet
zu werden, wie dies in dem veröffentlichten Ent-
wurfe auch geschehen ist. Angesichts der bisherigen
Erfahrungen ist nicht abzusehen, warum nur die
gewerblichen Streitigkeiten die mannigfaltigen
Erleichterungen genießen sollen, welche das Gesetz
ihnen gewährt. Wenn die Zivilprozeßordnung den
amtsgerichtlichen Prozeß dem praktischen Bedürf-
nis entgegen viel zu eng an die Formen und Regeln
des landgerichtlichen Prozesses anschloß, so ist hier
gezeigt, wie man das Verfahren der Eigenart klei-
nerer Rechtsstreitigkeiten besser anpassen kann.
Gewerbegerichte.
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Als reformbedürftig erwiesen sich in erster Linie
die Vorschriften über die Wahl der Beisitzer. Es
ließ sich nicht verhüten, daß die politischen Partei-
verhältnisse in die Wahl hineingezogen wurden.
Dies führte zum Verlangen eines Proportional-
wahlsystems, nach welchem jede Partei unter den
Beisitzern nach dem Verhältnis der für sie ab-
gegebenen Stimmen vertreten sein sollte. Auch eine
genauere Abgrenzung der Zuständigkeit der Ge-
werbegerichte erwies sich als erwünscht, da Zu-
ständigkeitsstreitigkeiten vor ihnen einen breiten
Raum einnahmen. Diese und andere Wünsche
wurden erfüllt durch das Meichsgefet vom
30. Juni 1901 (in Kraft seit 1. Jan. 1902).
Es macht die Gewerbegerichte in allen Städten
über 20 000 Einwohner obligatorisch; für die
Wahl der Beisitzer ist eine Reglung nach den
Grundsätzen der Verhältniswahl durch das Statut
zugelassen; die Bestimmungen über die Funktion
als Einigungsamt bei sozialen Streitigkeiten sind
ausgestaltet und verschärft; das Gewerbegericht
ist für nicht zuständig erklärt, wenn bei der Strei-
tigkeit ausschließlich Innungsmitglieder und deren
Arbeiter beteiligt sind und für die Innung ein
besonderes Einigungsamt besteht; rufen aber beide
Teile das Gewerbegericht an, so ist dieses zustän-
dig. Trotz der Ermächtigung in Art. 3 dieses Ge-
setzes steht die neue Fassung des Textes des Ge-
werbegerichtsgesetzes immer noch aus.
Die Gewerbegerichte haben sich bis heute durch-
aus bewährt, wenn auch selbstredend immer noch
Verbesserungswünsche bleiben.
Im Jahre 1906 gab es im Deutschen Reich 418
(1905: 406) Gewerbegerichte, unter diesen 7 Berg-
gewerbegerichte und 19 landesgesetzliche Gewerbe-
gerichte gemäß § 85 des Gewerbegerichtsgesetzes.
117 385 (1905: 110 604) Klagen waren rechts-
hängig geworden, unter diesen 106 260 (1905:
102 240) von Arbeitern gegen Arbeitgeber, 10 774
(1905:7980) von Arbeitgebern gegen Arbeiter, 351
(1905: 384) zwischen Arbeitern desselben Arbeit-
gebers. Der Wert des Streitgegenstandes betrug
in 55 612 (1905: 50 934) Fällen bis zu 20 M, in
34 023 (1905: 34640) bis zu 50 M, in 14 849
(1905: 14 302) bis zu 100 M und in 8150 (1905:
7289) Fällen über 100 M. Von den rechtshängigen
Streitsachen wurden erledigt durch Vergleich 49596
(1905: 48.066), durch Verzicht 2475 (1905:2775),
durch Anerkenntnis 1873 (1905: 1818), durch Ver-
säumnisurteil 11 939 (1905: 11 252), durch andere
Endurteile 19 516 (1905: 17756). In 5846
(1905: 5580) Fällen dauerte der Rechtsstreit bis
zum Erlaß des Endurteils weniger als eine Woche,
in 6186 (1905: 5454) bis zu zwei Wochen, in
4838 (1905: 4375) bis zu einem Monat, in 2241
(1905: 2041) bis zu drei Monaten und in 405
(1905: 306) Fällen mehr als drei Monate. Die
Zahl der Berufungen gegen die Endurteile der Ge-
werbegerichte stieg von 480 im Jahre 1905 auf 553
im Jahre 1906. Als Einigungsämter traten sie in
Tätigkeit in 253 (1905: 165) Fällen auf Anrufung
von beiden Seiten, in 6 (1905: 10) nur seitens der
Arbeitgeber und in 234 (1905; 175) Fällen nur
seitens der Arbeiter. Eine Vereinbarung kam zu-