Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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stärkeres Vordringen des weiblichen Ele- 
mentes im Erwerbsleben und in den verschieden- 
sten Berufen zur Folge gehabt. 
Die soziale Gliederung der Bevöl. 
kerung des Deutschen Reiches stellt sich nach 
den Ergebnissen der Berufszählung von 1907 dar, 
wie Tabelle III auf Sp. 739/40 zeigt. 
In der Landwirtschaft (4A) ist eine kleine 
Abnahme der Selbständigen und eine geringe Zu- 
nahme der Angestellten festzustellen. Die Zahl der 
Arbeiter hat sich stark vermehrt, jedoch ausschließ- 
lich infolge einer ganz erheblichen Zunahme der 
weiblichen Arbeitskräfte, die in der Hauptsache auf 
eine Anderung des Zählverfahrens zurückzuführen 
sein dürfte; viele Angehörige find nämlich bei der 
letzten Erhebung als Mägde gezählt worden. Dem- 
entsprechend ergeben die Relativzahlen eine Zu- 
nahme der Arbeiter auf Kosten der Selbständigen. 
— In Industrie, Bergbau und Bauge- 
werbe (B) zeigt sich ebenfalls eine kleine Vermin- 
derung der Selbständigen. Die Angestellten sind 
dagegen ganz außerordentlich (um mehr als die 
Hälfte) gewachsen; die Zahl der weiblichen ist von 
9000 auf 64.000 gestiegen. Die Arbeiterschaft hat 
um 44,2% zugenommen, und zwar auch hier auf 
Kosten der Selbständigen. In Handel und Ver- 
kehr (C) ist allein eine kleine Steigerung der 
Selbständigenziffer zu verzeichnen. Die Angestellten 
sind hier um 76,1 % gewachsen. Von den Arbeitern 
haben namentlich die weiblichen eine sehr beträcht- 
liche Zunahme (60,5% ) aufzuweisen. Die Relativ- 
zahlen zeigen auch hier ein starkes Anwachsen der 
Arbeiter und Angestellten auf Kosten der Selb- 
ständigen. 
Von andern Ländern, welche in der letzten Zeit 
berufsstatistische Nachweise erhoben haben, sind noch 
hervorzuheben: Osterreich-Ungarn, die Schweiz, 
Belgien und Frankreich. In all diesen Ländern — 
mit Ausnahme Belgiens, wo die letzte Berufs- 
erhebung im Anschluß an die Betriebszählung 
stattfand — wurden die Berufserhebungen in Ver- 
bindung mit den jeweiligen Volkszählungen durch 
die Stellung von entsprechenden Zusatzfragen vor- 
genommen; die Aufnahmen erfolgten jedoch im 
allgemeinen in weniger methodischer Weise als im 
Deutschen Reich, das auf dem Gebiete der Be- 
rufs-, Sozial= und Betriebsstatistik mustergültig 
dasteht. Die internationalen Bestrebungen zur 
Vereinheitlichung der Berufserhebungen, welche in 
den letzten Jahrzehnten auf einer Reihe von stati- 
stischen Kongressen insbesondere hinsichtlich der 
Aufstellung einer einheitlichen Nomenklatur den 
Gegenstand eingehender Verhandlungen bildeten, 
haben bisher noch zu keinem positiven Erfolg ge- 
führt, so daß vorderhand nur die in Deutschland 
und Osterreich bewährten und wissenschaftlich ein- 
wandfreien Grundsätze der Berufserhebungen den 
übrigen Staaten zur Nachahmung auf das nach- 
drücklichste empfohlen werden können. 
Literatur. Art. „Beruf u. Berufsstatistik" so- 
wie Art. „Gewerbestatistik“ im Wörterbuch der 
Volkswirtschaft (21906) u. im Handwörterbuch der 
Staatswissenschaften IV (21908/10).— Die Ergeb- 
nisse der deutschen G. vom Jahre 1875 im 34., 
35. u. 48. Bd der Statistik des Deutschen Reiches, 
Gewerbevereine — Gewerk= und Arbeitervereine. 
  
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der B.= u. G. von 1882 ebd., neue Folge, Bd 2/7, 
u. endlich der Zählung von 1895 ebd., neue Folge, 
Bd 111/119. Die Zählungsergebnisse für die ein- 
zelnen Staaten sind in deren statist. Quellenwerken 
u. Zeitschriften veröffentlicht. — Kollmann, Die 
gewerbl. Entwicklung des Deutschen Reiches nach 
der Zählung von 1895, in Schmollers Jahrbuch, 
24. Jahrg. (1900); Rauchberg, Die B.= u. G. im 
Deutschen Reich von 1895 (1901); H. Schöbel, 
Dresdener B.= u. G. u. die Aufgaben der B.= u. G. 
(Mitteilungen des Statist. Amts der Stadt Dres- 
den, 10. Hft, 1901). — Verschiedene Darstellungen 
u. kritische Besprechungen der deutschen Berufs- 
zählungen von 1882 u. 1895 finden sich in fast 
sämtlichen nationalökon. Zeitschriften, insbes. in 
G. v. Mayrs Allg. Statist. Archiv. — Über die 
österr. B.= u. G.en sind mehrere Abhandlungen von 
v. Inama u. Rauchberg in der Statist. Monats- 
schrift erschienen (vgl. namentlich Jahrg. 1903 bis 
1905). — Vorläufige Ergebnisse der eidgenöss. 
Betriebszählung vom 9. Aug. 1905: Schweiz. Sta- 
tistik, 147. Lieferung. — E. Waxweiler, Die bel- 
gische Industrie= u. Gewerbezählung von 1896, 
in G. v. Mayrs Allg. Statist. Archiv VI. — Re- 
censement général des Industries et des Métiers. 
(31. Okt. 1876) (18 Bde, 1900/03); H. Rauchberg, 
Die Berufzs= u. Betriebszählungen des Jahres 1896 
in Frankreich u. Belgien, in Statist. Monatsschrift 
1899 u. in G. v. Mayrs Allg. Statist. Archiv V; 
Résultats statistiques du recensement des in- 
dustries et professions (en France) en 1896 
(4 Bde, 1899/1901). LEhrler.] 
Gewerbevereine s. Innungen. 
Gewerk-und Arbeitervereine. A. Ge- 
werkvereine. I. Begriff, Recht und Organi- 
sation der Gewerkvereine. Die Gewerkvereine 
sind freie Verbände von Lohnarbeitern desselben 
oder verwandter Gewerbe zu dem Zwecke, durch ge- 
schlossenes Vorgehen ihren Mitgliedern die mög- 
lichst günstige Verwertung ihrer Arbeitskraft im 
freien Arbeitsvertrage zu sichern. Über diese für 
den Lohnarbeiter wichtigste und dem Gewerkvereine 
wesentliche Aufgabe hinaus haben die Gewerk- 
vereine naturgemäß je nach dem Maße ihrer Aus- 
breitung, ihrer Mittel und der sozialen Schulung 
ihrer Mitglieder ihre Aufgaben ausgedehnt auf 
den Schutz und die Förderung anderer verwandter 
Standesinteressen der Arbeiter. Diesem Zwecke 
dienen Unterstützungskassen behufs Kranken-, Un- 
fall= und Invalidenversicherung; die Arbeitslosen- 
unterstützung durch Arbeitsnachweis, Reisegeld, 
Wartegeld, welche zwar zu den wesentlichen Funk- 
tionen der Gewerkvereine zu rechnen ist, gleich- 
wohl meistens erst im Laufe der Zeit bei größerer 
Opferwilligkeit der Mitglieder durchgeführt wer- 
den kann; Mäßigkeits= und Bildungsbestrebungen. 
Da alle diese Mittel der Selbsthilfe aber der Er- 
gänzung durch den gesetzlichen Arbeiterschutz nicht 
entbehren können, erwuchs den Gewerkvereinen 
auch die Aufgabe, auf die staatliche Gesetzgebung 
fördernd einzuwirken durch Gutachten, Anträge, 
Verhandlungen mit den Regierungen und Parla- 
mentariern, nicht zuletzt auch durch Verpflichtung 
der Wahlkandidaten der auf die Arbeiterstimmen 
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