Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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möglich; die Lüge könnte heute eine Tugend, die 
Keuschheit ein Laster sein. Solche und ähnliche 
Konsequenzen sprechen jedem sittlichen Empfinden 
Hohn. Von evolutionistischen Ideen hält auch Fr. 
Paulsen sich nicht frei, wenn er das Gewissen rest- 
los aus den „Sitten“ ableitet und diese als ver- 
erbte „zum Bewußtsein gekommene Instinkte“ auf- 
faßt. „Das Gewissen“, sagt er, „ist in seinem 
Ursprung nichts anderes als das Wissen um die 
Sitte; der einzelne weiß, welches Verhalten, z. B. 
gegen das andere Geschlecht, ihm durch die Sitte 
vorgeschrieben wird; durch die Erziehung, durch 
das Urteil der Gesellschaft über das Anständige 
und Unanständige, durch das Recht und die Stra- 
fen, endlich durch die religiösen Gebote ist ihm von 
klein auf eingeprägt, wie er sich verhalten soll“ 
(Einleitung in die Philosophie (119061 460). 
Aber es ist unschwer einzusehen, daß diese Dar- 
legung die Dinge auf den Kopf stellt. Denn wie 
eine gute und schlechte Erziehung oder öffentliche 
Meinung, so gibt es auch gute und schlechte Sitten, 
über deren sittliche Qualität wieder eben dasselbe 
Gewissen als oberster Richter zu entscheiden hat, 
das aus dem „Wissen um die Sitte“ geboren sein 
soll. Nicht das Gewissen hat sich zu richten nach 
der Sitte, sondern umgekehrt die Sitte nach dem 
Gewissen. Auch deckt sich das scharf umrissene Ge- 
biet des Sittlichen durchaus nicht mit dem viel 
größeren Areal der Sitten, von denen viele sittlich 
indifferent und mit den verschiedenen Zeiten ver- 
änderlich sind, wie z. B. Reise= und Hossitten, 
Etikette und Umgangsformen, wohingegen vom 
eigentlich Sittlichen das Axiom gilt: Semper et 
ubique idem. 
Eine nicht minder entschiedene Zurückweisung 
verdient der Hedonismus, welcher, im Alter- 
tum von Aristipp und Epikur gepflegt und von den 
englischen Ethikern J. Bentham und James Mill 
zu neuem Leben erweckt, das Motiv und letzte Ziel 
aller unserer Handlungen in die Erzielung eines 
Maximums von Lust bei einem Minimum von 
Unlust verlegt. Das Gewissen sei keine ursprüng- 
liche Anlage, sondern das verwickelte Ergebnis an- 
genehmer und unangenehmer Erfahrungen in Ver- 
bindung mit ganz bestimmten Handlungen. Indem 
im Bewußtsein des Kindes sich mit der Erinnerung 
an gewisse Taten die Idee der elterlichen Beloh- 
nung oder Strafe assoziiert, setzt sich in ihm der 
Begriff des Guten und Bösen fest, welcher mit den 
entsprechenden Lust= und Unlustgefühlen unlöslich 
verknüpft bleibt. Die Unzulänglichkeit dieser An- 
schauung springt in die Augen, wenn man erwägt, 
daß schon der kleine Knabe sehr wohl zwischen ge- 
rechter und ungerechter Züchtigung zu unterscheiden 
weiß, wie er auch ein scharfes Augenmerk dafür 
hat, ob eine ihm oder andern zugefallene Beloh- 
nung verdient ist oder nicht: folglich besitzt er schon 
vor der Vergeltung und unabhängig von den as- 
soziierten Lust= und Unlustgefühlen in seinem 
Innern einen kritischen Maßstab, mit dem er die 
Berechtigung jenes selben Vergeltungsapparates 
Staatslexikon. II. 3. Aufl. 
Gewissen ufw. 
  
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mißt, den die Hedonisten zur Mutter des Ge- 
wissens machen möchten. Einen Anflug von Al- 
truismus nimmt der Hedonismus an, wenn er 
ohne Aufgebung seines innern Wesens sich das 
Mäntelchen der Nächstenliebe umhängt und sich 
auf die Lebensmaxime festlegt: „Förderung des 
größten Glückes einer größtmöglichen Anzahl von 
Menschen.“ Dies ist der ethische Standpunkt des 
englischen Utilitarismus (Paley, Austin, 
George Grote u. a.), der schon darum als Maß- 
stab des Gewissens unbrauchbar erscheint, weil er 
das politische Prinzip der irdischen Volkswohl= 
fahrt mit dem ethischen Endziel der ewigen Glück- 
seligkeit verwechselt. Im Nützlichkeitsprinzip bleibt 
die Größe und Heiligkeit des heldenhaften Ge- 
wissens unerklärt. Der Gewissensheld schreitet über 
alle Lockungen des Vergnügens oder Nutzens rück- 
sichtslos hinweg und tut seine klare Pflicht mit dem 
Ausruf: Fiat iustitia, pereat mundus. Es 
kommt hinzu, daß Autorität und Neigung, Pflicht 
und Nutzen in schwierigen Lebenslagen sich häufig 
so schroff entgegenstehen, daß um der unerbittlichen 
Gewissensforderung willen die Neigung dem Ge- 
setz, der Nutzen der Pflicht zum Opfer gebracht 
werden muß. Vielleicht kein anderer Philosoph hat 
gegen die egoistische Ethik des Hedonismus und 
Utilitarismus so gewaltige und erfrischende Töne 
angeschlagen als Kant, von dem der schöne Aus- 
spruch stammt: „Zwei Dinge erfüllen mich immer 
mit stiller Bewunderung: der Sternenhimmel über 
mir und das Gewissen in mir.“ 
Was die Lehre Kants selbst angeht, so identi- 
fiziert er das Gewissen ganz richtig mit der prak- 
tischen Vernunft, welche den „kategorischen Im- 
perativ“ formt: Du sollst. Aber weil dieses Soll 
aus sich heraus verpflichtende Gesetzeskraft entfaltet 
und der Mensch unter Ausschaltung jeder höheren 
Autorität sich selbst Gebote und Verbote auferlegt, 
so gelangt Kant folgerichtig zum Prinzip der 
„Autonomie der Vernunft“. Die sog. heteronome 
Moral, welche die Pflicht aus einem fremden 
Willen ableitet, ist unsittlich. In dieser Auffassung 
ist das Gewissen nicht die Stimme Gottes in uns, 
sondern der Herold der Selbstgesetzgebung durch 
die menschliche Vernunft. Die Vorzüge wie die 
Schwächen der Kantschen Gewissenstheorie werden 
dem eindringenden Denker nicht leicht entgehen. 
Die Reinheit, Majestät und Strenge der Pflicht- 
gebote ohne Rücksicht auf Neigung und Glück, die 
Unverletzlichkeit und Heiligkeit des Sittengesetzes, 
die Allgemeinheit und Gleichartigkeit des Gewissens 
sind Züge, an denen in der packenden Darstellung 
Kants niemand ohne Bewunderung vorübergeht. 
Allein der bestrickende Zauber, der uns umfängt, 
zerrinnt in gleißenden Schein, sobald wir die 
Autonomie des Gewissens begrifflich zergliedern 
und auf ihre Grundlage prüfen. Wie kann die 
geschaffene Vernunft ihre eigene oberste Gesetz- 
geberin sein, wie sich selbst mit absolutem Macht- 
spruch ewig binden? Ein Verstoß gegen meine 
Vernunft mag eine grobe Ungehörigkeit, eine un- 
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