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möglich; die Lüge könnte heute eine Tugend, die
Keuschheit ein Laster sein. Solche und ähnliche
Konsequenzen sprechen jedem sittlichen Empfinden
Hohn. Von evolutionistischen Ideen hält auch Fr.
Paulsen sich nicht frei, wenn er das Gewissen rest-
los aus den „Sitten“ ableitet und diese als ver-
erbte „zum Bewußtsein gekommene Instinkte“ auf-
faßt. „Das Gewissen“, sagt er, „ist in seinem
Ursprung nichts anderes als das Wissen um die
Sitte; der einzelne weiß, welches Verhalten, z. B.
gegen das andere Geschlecht, ihm durch die Sitte
vorgeschrieben wird; durch die Erziehung, durch
das Urteil der Gesellschaft über das Anständige
und Unanständige, durch das Recht und die Stra-
fen, endlich durch die religiösen Gebote ist ihm von
klein auf eingeprägt, wie er sich verhalten soll“
(Einleitung in die Philosophie (119061 460).
Aber es ist unschwer einzusehen, daß diese Dar-
legung die Dinge auf den Kopf stellt. Denn wie
eine gute und schlechte Erziehung oder öffentliche
Meinung, so gibt es auch gute und schlechte Sitten,
über deren sittliche Qualität wieder eben dasselbe
Gewissen als oberster Richter zu entscheiden hat,
das aus dem „Wissen um die Sitte“ geboren sein
soll. Nicht das Gewissen hat sich zu richten nach
der Sitte, sondern umgekehrt die Sitte nach dem
Gewissen. Auch deckt sich das scharf umrissene Ge-
biet des Sittlichen durchaus nicht mit dem viel
größeren Areal der Sitten, von denen viele sittlich
indifferent und mit den verschiedenen Zeiten ver-
änderlich sind, wie z. B. Reise= und Hossitten,
Etikette und Umgangsformen, wohingegen vom
eigentlich Sittlichen das Axiom gilt: Semper et
ubique idem.
Eine nicht minder entschiedene Zurückweisung
verdient der Hedonismus, welcher, im Alter-
tum von Aristipp und Epikur gepflegt und von den
englischen Ethikern J. Bentham und James Mill
zu neuem Leben erweckt, das Motiv und letzte Ziel
aller unserer Handlungen in die Erzielung eines
Maximums von Lust bei einem Minimum von
Unlust verlegt. Das Gewissen sei keine ursprüng-
liche Anlage, sondern das verwickelte Ergebnis an-
genehmer und unangenehmer Erfahrungen in Ver-
bindung mit ganz bestimmten Handlungen. Indem
im Bewußtsein des Kindes sich mit der Erinnerung
an gewisse Taten die Idee der elterlichen Beloh-
nung oder Strafe assoziiert, setzt sich in ihm der
Begriff des Guten und Bösen fest, welcher mit den
entsprechenden Lust= und Unlustgefühlen unlöslich
verknüpft bleibt. Die Unzulänglichkeit dieser An-
schauung springt in die Augen, wenn man erwägt,
daß schon der kleine Knabe sehr wohl zwischen ge-
rechter und ungerechter Züchtigung zu unterscheiden
weiß, wie er auch ein scharfes Augenmerk dafür
hat, ob eine ihm oder andern zugefallene Beloh-
nung verdient ist oder nicht: folglich besitzt er schon
vor der Vergeltung und unabhängig von den as-
soziierten Lust= und Unlustgefühlen in seinem
Innern einen kritischen Maßstab, mit dem er die
Berechtigung jenes selben Vergeltungsapparates
Staatslexikon. II. 3. Aufl.
Gewissen ufw.
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mißt, den die Hedonisten zur Mutter des Ge-
wissens machen möchten. Einen Anflug von Al-
truismus nimmt der Hedonismus an, wenn er
ohne Aufgebung seines innern Wesens sich das
Mäntelchen der Nächstenliebe umhängt und sich
auf die Lebensmaxime festlegt: „Förderung des
größten Glückes einer größtmöglichen Anzahl von
Menschen.“ Dies ist der ethische Standpunkt des
englischen Utilitarismus (Paley, Austin,
George Grote u. a.), der schon darum als Maß-
stab des Gewissens unbrauchbar erscheint, weil er
das politische Prinzip der irdischen Volkswohl=
fahrt mit dem ethischen Endziel der ewigen Glück-
seligkeit verwechselt. Im Nützlichkeitsprinzip bleibt
die Größe und Heiligkeit des heldenhaften Ge-
wissens unerklärt. Der Gewissensheld schreitet über
alle Lockungen des Vergnügens oder Nutzens rück-
sichtslos hinweg und tut seine klare Pflicht mit dem
Ausruf: Fiat iustitia, pereat mundus. Es
kommt hinzu, daß Autorität und Neigung, Pflicht
und Nutzen in schwierigen Lebenslagen sich häufig
so schroff entgegenstehen, daß um der unerbittlichen
Gewissensforderung willen die Neigung dem Ge-
setz, der Nutzen der Pflicht zum Opfer gebracht
werden muß. Vielleicht kein anderer Philosoph hat
gegen die egoistische Ethik des Hedonismus und
Utilitarismus so gewaltige und erfrischende Töne
angeschlagen als Kant, von dem der schöne Aus-
spruch stammt: „Zwei Dinge erfüllen mich immer
mit stiller Bewunderung: der Sternenhimmel über
mir und das Gewissen in mir.“
Was die Lehre Kants selbst angeht, so identi-
fiziert er das Gewissen ganz richtig mit der prak-
tischen Vernunft, welche den „kategorischen Im-
perativ“ formt: Du sollst. Aber weil dieses Soll
aus sich heraus verpflichtende Gesetzeskraft entfaltet
und der Mensch unter Ausschaltung jeder höheren
Autorität sich selbst Gebote und Verbote auferlegt,
so gelangt Kant folgerichtig zum Prinzip der
„Autonomie der Vernunft“. Die sog. heteronome
Moral, welche die Pflicht aus einem fremden
Willen ableitet, ist unsittlich. In dieser Auffassung
ist das Gewissen nicht die Stimme Gottes in uns,
sondern der Herold der Selbstgesetzgebung durch
die menschliche Vernunft. Die Vorzüge wie die
Schwächen der Kantschen Gewissenstheorie werden
dem eindringenden Denker nicht leicht entgehen.
Die Reinheit, Majestät und Strenge der Pflicht-
gebote ohne Rücksicht auf Neigung und Glück, die
Unverletzlichkeit und Heiligkeit des Sittengesetzes,
die Allgemeinheit und Gleichartigkeit des Gewissens
sind Züge, an denen in der packenden Darstellung
Kants niemand ohne Bewunderung vorübergeht.
Allein der bestrickende Zauber, der uns umfängt,
zerrinnt in gleißenden Schein, sobald wir die
Autonomie des Gewissens begrifflich zergliedern
und auf ihre Grundlage prüfen. Wie kann die
geschaffene Vernunft ihre eigene oberste Gesetz-
geberin sein, wie sich selbst mit absolutem Macht-
spruch ewig binden? Ein Verstoß gegen meine
Vernunft mag eine grobe Ungehörigkeit, eine un-
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