Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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verantwortliche Narrheit, muß aber doch nicht 
Sünde sein, zumal nicht gut einzusehen ist, warum 
derjenige, welcher sich selbst absolut bindet, nicht 
Autorität genug besitzen sollte, um sich von der 
selbstauferlegten Pflicht ebenso eigenmächtig zu 
entbinden. Kant verwechselt das Naturgesetz mit 
der Promulgation dieses Gesetzes, die sich aller- 
dings nur in der denkenden Vernunft vollzieht; 
das Naturgesetz selbst stammt aus einem höheren 
Willen über uns, d. i. Gottes. Da nun Gott allein 
keinem andern als seinem eigenen, mit der in seinem 
Wesen wurzelnden lex aeterna identischen Ge- 
setze untersteht, so läuft die Kantsche Auffassung 
in letzter Instanz auf eine anmaßliche Selbst- 
vergötterung der menschlichen Vernunft hinaus. 
Wer aber die Vernunft auf den Thron Gottes 
setzt, der befreit das Gewissen von jeder Verpflich- 
tung gegen eine äußere Autorität und entwertet 
die Tugend des Gehorsams gegen Gott, Eltern, 
Staat und Kirche, da der Gehorsam der Vernunft 
gegen sich selbst ein begrifflich unvollziehbares Un- 
ding ist. Die Geschichte der deutschen Philosophie 
hat denn auch klar bewiesen, daß Kant gegen seinen 
Willen der Vater der pantheistischen Weltan- 
schauung Fichtes, Schellings und Hegels geworden 
ist. Gewiß hat Kant für seine Person das Ge- 
wissen nicht, wie die weltliche Ethik der Gegen- 
wart, von Gott ganz loslösen wollen, da er das 
theoretisch unbeweisbare Dasein Gottes wenigstens 
als Postulat für die praktische Vernunft gelten läßt. 
Aber gerade diese Ausflucht ist ein neuer Beweis 
für die grundsätzliche Unhaltbarkeit seiner Stellung, 
weswegen Schopenhauer spottend sagen konnte, 
die Kantsche Ethik strecke zuletzt doch wieder die 
bettelnde Hand aus, um von Gott das Trinkgeld 
in Empfang zu nehmen. 
Auch diejenigen Ethiker treffen nicht das Rich- 
tige, welche das Gewissen einem eigenen „ethischen 
Sinne“ nach Analogie des Tast= oder Gehör- 
sinnes zuweisen. Ja der Sensualismus der 
Engländer Shaftesbury (1 1713) und besonders 
Hutcheson (1 1747)schrak nicht vor der Annahme 
eines eigentlichen Gewissensorgans zurück. Die 
Leichtigkeit und Schnelligkeit der Gewissensurteile, 
die auffallende Verbreitung der höchsten sittlichen 
Grundsätze im ganzen Menschengeschlechte ein- 
schließlich der verwahrlosten Wilden, endlich das 
frühzeitige Erwachen des kindlichen Gewissens 
lasse sich nur aus einem angebornen moral sense 
verstehen, der den Unterschied zwischen gut und 
bös ebenso unmittelbar wahrnimmt, wie die Zunge 
zwischen süß und sauer unterscheidet. Allein ab- 
gesehen vom Umstand, daß das Gewissen als sitt- 
liche Urteilskraft überorganisch ist und primär dem 
Verstande angehört, leidet die sensualistische Auf- 
fassung an dem doppelten Gebrechen, daß sie weder 
die Objektivität noch die absolute Bindung der 
Gewissenssprüche zu ihrem Rechte kommen läßt. 
Jede sinnliche Wahrnehmung ist im Grunde nichts 
anderes als die notwendige Reaktion auf einen 
gegebenen Reiz. Während nun Stimmungen, 
  
  
Gewissen ufw. 772 
Anlagen, Anderungen des Subjekts auch auf die 
subjektive Wahrnehmung bestimmend und ver- 
ändernd einwirken, erfreuen sich hingegen die 
Sittengesetze einer so großen Unveränderlichkeit 
und Allgemeingültigkeit, daß selbst Gott durch 
etwaige Umwertung der sittlichen Grundbegriffe 
sie nicht in ihr Gegenteil verkehren kann. Noch 
weniger ist die verpflichtende Kraft, die den Aus- 
prüchen des Gewissens innewohnt und von selbst 
auf eine höchste sittliche Instanz über sich hinaus- 
weist, aus einem eigentlichen Gewissensorgan be- 
greisbar. Mag zwar die spontane Auslösung eines 
ethischen Reizes eine geeignete Grundlage für 
Willensimpulse zum Handeln schaffen, so entbehrt 
sie doch der nötigen Autorität, um dem Menschen 
diese Handlung als eine unverbrüchliche Pflicht 
aufzuerlegen, deren Beurteilung wiederum nur 
Sache des Verstandes sein kann. Deshalb hatte 
auch Hume ( 1776) sich noch nicht zur vollen 
Wahrheit durchgerungen, als er den „moralischen 
Sinn“ zwar in zwei Faktoren: Verstand und Ge- 
fühl (reason and sentiment) auflöste, dabei dem 
Gefühl aber unter Zurücksetzung des Verstandes 
die Hauptrolle beim Gewissen zuerkannte. Obgleich 
Gewissensbiß und Reueschmerz ebenso gewiß Un- 
lust erwecken als Gewissensruhe Lust, so stellen 
dennoch diese Gefühle nur Begleiterscheinungen 
des bösen und guten Gewissens dar. Wie das 
Wesen der Reue auf der geistigen Erkenntnis der 
Übertretung der sittlichen Ordnung beruht, so 
wurzelt der Seelenfriede in dem Bewußtsein ge- 
treuer Pflichterfüllung. Wo immer diese höhere 
Erkenntnis fehlt, da entfällt auch das mitbeglei- 
tende Lust= oder Unlustgefühl von selbst, es sei 
denn, daß man gewisse unbestimmte und dunkle 
Gefühle ohne weiteres mit dämmernden, schlum- 
mernden Gewissensurteilen als identisch gleichsetzen 
darf. Mit diesen Erwägungen ist endlich auch der 
Gefühlstheorie des Gewissens das Urteil 
gesprochen, und zwar auch dann, wenn man das 
Gefühl mit der schottischen Schule unter der Führer- 
schaft von Reid und Stewart direkt auf das geistige 
Gebiet hinüberspielt (rational sense). Denn auch 
die geistigen Gefühle sind als solche blind und als 
Maßstab des Sittlichen so unzuverlässig wie die 
wechselnden Launen des Herzens, dessen Stim- 
mungen mit der Witterung umschlagen. Wäre 
nur das gut, was die Brust plötzlich in heller Be- 
geisterung höher schlagen läßt, dann hätte der 
Bergsteiger auf den Alpen das beste Gewissen, und 
als schlimmster Bösewicht müßte derjenige gelten, 
dessen Wangen nach einem groben Verstoß gegen 
die Etikette sich mit tiefer Schamröte übergießen. 
Mit Gefühlen allein läßt sich ebensowenig eine 
zutreffende Gewissenstheorie entwerfen als mit 
einem sinnlichen oder geistigen Sinn für das Mo- 
ralische. — Zum Ganzen vgl. Stäudlin, Die Ge- 
schichte der Lehre vom Gewissen (1824); Jahnel, 
De conscientiae ratione, qdualis fuerit apud 
veteres (1862); Quaartz, De conscientiae 
apud Kantium notione (1867); ders., Kants 
—„
	        
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