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Lehre vom Gewissen (1880); Hoppe, Das Ge-
wissen mit Einschluß der Gefühle und der Sitten
(1875); P. Rée, Die Entstehung des Gewissens
(1885); O. Kirn, Sittliche Lebensanschauungen
der Gegenwart (1907); E. Westermark, Ursprung
und Entwicklung der Moralbegriffe (deutsch von
L. Katscher, 1907).
2. Dietheistische Weltanschauung, durch das
Christentum bestätigt, verklärt und vertieft, ist
allein imstande, die Entstehung und das Wesen
des Gewissens so zu erklären, daß alle Tatsachen
und charakteristischen Eigenschaften desselben zur
vollen Geltung gelangen. Wie der Schöpfer der
Natur die unvernünftigen Weltdinge in ihrem
Sein und Wirken durch Naturgesetze ordnet und
treibt, so hat er den freien Vernunftgeschöpfen das
natürliche Sittengesetz ins Herz geschrieben, dessen
im mosaischen Dekalog verkörperte Grundzüge auch
einen Teil der übernatürlichen Offenbarung aus-
machen. Mit derselben Leichtigkeit und Sicherheit,
womit die theoretische Vernunft die metaphysischen
Seins= und logischen Denkgesetze formt, erkennt
auch die praktische Vernunft nach ihrem Erwachen
die unbedingte Richtigkeit der obersten sittlichen
Axiome, wie: „Tue das Gute, meide das Böse“,
oder: „Was du nicht willst, daß man dir tu', das
füg auch keinem andern zu.“ Wie es bezüglich
dieser höchsten Grundsätze in einem normal ent-
wickelten Menschen weder Unwissenheit noch Un-
sicherheit geben kann, so lassen sich daraus mit fast
der gleichen Sicherheit auch gewisse Regeln der
sittlichen Verhaltungsweise gegen Gott, Eltern,
Mitmenschen und das eigene Selbst ableiten, wie:
Gott ist anzubeten; den Eltern ist man Liebe und
Gehorsam schuldig; Mord und Ehebruch sind
Verbrechen usw. Diesen habituellen Besitz der all-
gemeinsten sittlichen Grundbegriffe und Grund-
sätze (habitus principiorum moralium) kann
man das „allgemeine Gewissen“ nennen, wofür
die Scholastik eigens den Begriff der Synterese
(Covr#s###, wahrscheinlich verstümmelt aus ur-
sprünglichem oovelsnoic) geprägt hat. Das „be-
sondere Gewissen“ oder Gewissen im eigentlichen
Sinne (conscientia, ouvelöncete) hingegen ist das
individuelle Vernunfturteil über die Sittlichkeit
oder Unsittlichkeit einer bestimmten konkreten Hand-
lung, also die praktische Anwendung der sittlichen
Prinzipien auf den Einzelfall.
Vor der zu setzenden Handlung ist das beson-
dere Gewissen der gesetzgebende Führer, der
antreibt oder zurückhält, gebietet oder verbietet
(c. antecedens), während es nach vollzogener
Tat zum unnachsichtlichen Richter wird, der
lobt oder tadelt, billigt oder mißbilligt (c. con-
sequens). Insbesondere das böse nachfolgende
Gewissen kann für den Ruchlosen zur quälenden
Folter werden, wie sie das altgriechische Drama
so ergreifend und naturgetreu zu schildern weiß
(Eumeniden, Erinnyen). Daß sich bei dieser be-
wußt oder unbewußt in syllogistischen Formen
bewegenden Tätigkeit der praktischen Vernunft
Gewissen ufw.
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auch Irrtümer einschleichen können, ist ebensowenig
zu verwundern, als daß auch die theoretische Ver-
nunft sich mancherlei „logische Schnitzer“ zuschul-
den kommen läßt. Wenn gewisse Wilde das vierte
Gebot durch Tötung ihrer kranken, altersschwachen
Eltern zu erfüllen glauben, so liegt der Irrtum
nicht im notwendigen und unveränderlichen Ober=
satzu „Den Eltern soll man Gutes erweisen“,
sondern lediglich im falschen Untersatz: „Durch
Tötung erweist man den altersschwachen Eltern
einen Liebesdienst“, weswegen auch der Schlußsatz,
der die Tötung als erlaubt hinstellt, materiell un-
richtig, d. i. unsittlich wird. So klingt denn selbst
in der verkehrten Anwendung der richtigen Grund-
sätze auf den Einzelfall das Gewissen als die
Stimme der Vernunft wieder, welcher der Mensch
als der Verkünderin des ewigen Sittengesetzes
Gehorsam schuldet. Wenn man das Gewissen
vielfach auch die „Stimme Gottes“ nennt, so liegt
in dieser Metapher insofern etwas Schiefes, als
diese göttliche Stimme dem schuldlos irrenden Ge-
wissen unter Umständen etwas als Pflicht vor-
schreiben kann, was tatsächlich gegen den Willen
Gottes ist. Höchstens ist die Stimme Gottes in
solchen Fällen noch in dem Sinne vernehmbar,
als sie das immer gültige, abstrakte Sittengebot
aufstellt: Die formelle Sünde, die allein das Ge-
wissen befleckt, ist unbedingt zu meiden, auch wenn
die betreffende Handlung materiell vielleicht keine
Sünde sein sollte. Die hier gemachte Unterschei-
dung zwischen dem wahren undirrigen Ge-
wissen (c. recta seu vera — C. falsa seu
erronea) ist deshalb von Bedeutung, weil sie auf
die Pflicht der Gewissensbildung hinweist,
ohne die kein Mensch zum sittlichen Charakter
werden kann; denn die nächste Regel unseres sitt-
lichen Tuns kann nur das wahre oder richtige
Gewissen sein, das sowohl nach der subjektiven
als objektiven Seite hin seiner Sache sicher ist.
Die auch für den Staat wichtige Gewissensbildung
erfolgt im Moralunterricht, der außer dem Deka-
log auch die hauptsächlichsten positiven Gesetze in
seinen Bereich zieht, welche die kirchliche und staat-
liche Gesetzgebung zum ewigen und zeitlichen
Wohle der Menschen erlassen hat. Daß ein rein
weltlicher, von der Religion losgelöster Moral-
unterricht, wie er jetzt in der atheistischen Staats-
schule Frankreichs erteilt wird, weder gute Men-
schen noch gewissenhafte Staatsbürger heranzu-
ziehen vermag, darüber sind alle verständigen
Pädagogen unter sich einig. Die Gewissenhaftig=
keit gedeiht nur in der Atmosphäre und unter dem
Segen der positiven Religion. Ein aus lauter
gewissenlosen oder sittlich verwahrlosten Sub-
jekten zusammengesetztes Staatsgebilde käme einer
Verbrecherkolonie gleich, die haltlos über kurz oder
lang in sich selbst zusammenbräche.
Nicht nur für das Verhalten des Individuums,
sondern auch für die Haltung und das Urteil des
Staates von Wichtigkeit ist die Einsicht, daß der
Mensch nur mit einem sichern Gewissen
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