Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Weckesser, Zur Lehre vom Gewissen (1886); 
Wohlrabe, Gewissen und Gewissensbildung 
(1883); R. Seeberg, Gewissen und Gewissens- 
bildung (1896); V. Cathrein S8. J., Die katho- 
lische Moral in ihren Voraussetzungen und ihren 
Grundlinien (1907) 496 ff; A. Koch, Lehrbuch 
der Moraltheologie (21908) 73 ff. 
II. Die Gewissensfreiheik ist ein so viel- 
deutiger Ausdruck, daß zwischen seinen verschie- 
denen Bedeutungen scharf unterschieden werden 
muß. Auch wird der für die irdische Wohlfahrt 
allein besorgte Staat eine etwas freiere Stellung 
zur Gewissensfreiheit einnehmen dürfen als die 
mit höheren, auf das Ewigkeitsziel gerichteten Auf- 
gaben betraute Kirche. 
1. Vor allem kann die Gewissensfreiheit nicht 
den Sinn haben, daß man in Gewissenssachen 
denken und urteilen kann, wie man 
will. Nicht das Recht auf sittliche Ungebunden- 
heit und Gewissenlosigkeit, sondern das Recht auf 
ein Gewissen hat der Mensch mit allen übrigen 
Gaben seiner Natur von Gott empfangen. Hier- 
nach besteht die Gewissensfreiheit zunächst in dem 
angestammten Recht, sich seine Gewissensüber= 
zeugung nach den objektiven Normen der Sittlich- 
keit selbst zu bilden. Das Gewissen ist nämlich 
nicht etwas rein Subjektives, sondern gebunden 
an die objektiven Maßstäbe des Sittlichen, wie sie 
im natürlichen und christlichen Sittengesetz nieder- 
gelegt sind. Als Vernunfturteil ist auch der Ge- 
wissensausspruch, soll er berechtigt sein, an der 
ewigen Wahrheitsnorm zu messen, die gegen das 
Unrecht nicht weniger ablehnend sich verhält wie 
gegen die Unwahrheit. Gut und bös, Recht und 
Unrecht, Tugend und Laster sind ebenso funda- 
mentale Grundbegriffe des menschlichen Bewußt- 
seins als richtig und falsch, Wahrheit und Irrtum. 
Wie es zwar eine Fähigkeit, kein Recht zu irren 
gibt, so kann es auch höchstens eine psychologische 
Möglichkeit, kein eigentliches Recht auf falsche 
Meinungen und Überzeugungen in Gewissens- 
fragen geben. Den besten Beweis für die Unfrei- 
heit des Gewissens liefern die heftigen Gewissens- 
bisse und inneren Qualen nach Vollbringung einer 
schlechten Tat. Diese Unruhe des bösen und der 
Frieden des guten Gewissens widerlegen am bün- 
digsten die Einbildung, als ob das Gewissen unter 
keiner wirksamen Kontrolle eines höheren Gesetzes 
stehe, das sich zum Gewissen verhält wie die 
Autorität zur Freiheit: folglich findet die Ge- 
wissensfreiheit ihre sittliche Schranke an der Auto- 
rität Gottes, die im natürlichen Sittengesetz und 
in der positiven Gesetzgebung der menschlichen 
Oberen zu uns spricht. Aus dieser grundsätzlichen 
Darlegung ist ohne weiteres ersichtlich, daß es dem 
Gewissen zuwiderhandeln hieße, wollte man für 
sich das Recht beanspruchen, sich sein Gewissen 
ganz nach freiem Belieben zu bilden und nach 
dem persönlichen Geschmack einzurichten, um desto 
ungestörter sich seinen Gelüsten hingeben und seine 
Persönlichkeit „ausleben“ lassen zu können. Das 
Gewissen ufw. 
  
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geforderte Ausleben der Persönlichkeit kann doch 
unmöglich die Ausartung in sittliche Anarchie und 
Zuchtlosigkeit, sondern nur die volle, harmonische 
Entfaltung aller unserer Anlagen, Vermögen und 
Triebe unter der Kontrolle der sittlichen Ordnung 
bedeuten, welche ihre unverirrliche Direktive von 
dem natürlichen Sittengesetz und den positiven 
Geboten Gottes, der Kirche und auch des Staates 
empfängt. — Vgl. Fr. Sawicki, Katholische Kirche 
und sittliche Persönlichkeit (1907). 
Bei der Innerlichkeit und Unzugänglichkeit des 
Gewissens hat freilich die äußere Autorität wie 
keine Macht, so auch kein Recht, mit physischer 
Gewalt in das innere Heiligtum des Gewissens 
einzubrechen und dort mit äußeren Zwangsmaß- 
regeln gute Gesinnung und Rechtschaffenheit ein- 
zupflanzen, die ohne die freie Willensmitwirkung 
ebenso unmöglich wie wertlos wäre. So wenig 
sich mit der Pistole von jemand Liebe erzwingen 
läßt, ebensowenig ist es möglich, mit physischer 
Nötigung dem Gewissen etwas aufzuzwingen, was 
es mit zäher Beharrlichkeit von sich zurückweist; 
denn dem äußern Zwange bringt das Gewissen 
dieselbe Unangreifbarkeit entgegen wie die mensch- 
liche Willensfreiheit. Der bloße Versuch, eine 
gute und fromme Handlung durch Zwangsmaß- 
regeln, etwa durch Tortur, Gefängnis und Geld- 
strafen, vom renitenten Gewissen zu ertrotzen, 
schüfe entweder billige Märtyrer oder erbärmliche 
Heuchler. In beiden Fällen bliebe der Betroffene 
ungebessert und der Zwingherr wäre um eine Ent- 
täuschung reicher. Überhaupt enthält schon jede 
aufdringliche und unwürdige Gesinnungsschnüffe- 
lei ein unerträgliches Attentat auf die persönliche 
Freiheit, das mit Entschlossenheit und Würde ab- 
gewehrt werden soll. Wie jeder für seine Gesin- 
nung nur vor Gott und seinem Gewissen die Ver- 
antwortung trägt, so hat er auch die schlimmen 
Folgen für sein inneres Verhalten allein zu tragen. 
Gott wird ihn richten nach seinem Gewissen. In- 
nere Gewissensübertretungen, wie böse Gedanken 
und Begierden, straft deshalb auch die katholische 
Kirche nicht durch öffentliche Bußwerke, sondern 
sfühnt sie im Bußgericht durch Auferlegung von 
privaten Pönitenzen, denen der Beichtende aus 
freien Stücken und mit seiner Einwilligung, also 
ohne Gewissenszwang, sich unterzieht. 
Verschieden von der äußern Gewalt ist das 
Recht der äußern Beeinflussung, die ohne 
jeden Gewissenszwang ausgeübt und unter Um- 
ständen zur Pflicht der berechtigten Faktoren er- 
hoben werden kann. Wir sagen: der berechtigten 
Faktoren. Denn nicht jedem beliebigen Menschen 
steht das Recht zu, in das Gewissen seines Neben- 
menschen hineinzureden, im guten oder bösen 
Sinne Einfluß auf dasselbe zu nehmen und es 
nach seinem Geschmack zu modeln und zu leiten. 
Die Übertragung der Gewissensleitung an einen 
Freund oder Beichtvater ist das ureigenste Frei- 
heitsrecht der sittlichen Persönlichkeit. Nur der 
gottgesetzten Autorität fällt das Recht, meist auch
	        
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