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die amtliche Pflicht zu, das Gewissen der Unter-
gebenen sogar gegen ihren Willen im Sinne der
Wahrheit und Rechtschaffenheit ethisch zu beein-
flussen, zu wecken und auszubilden. So darf der
Strafrichter in Ausübung seines Amtes den Ver-
brecher ohne Gewissenszwang ernstlich ermahnen,
durch ein offenes Geständnis sein schwer belastetes
Gewissen zu erleichtern. Die Kirche übt keine Ge-
wissenstyrannei aus, wenn sie ihren Amtspersonen
vor der Ubertragung eines wichtigen Kirchenamtes
das Glaubensbekenntnis abverlangt, wie auch der
Staat seinen Beamten mit Recht den Verfassungs-
eid auferlegt. Wenn zuweilen auch die chriftliche
Liebe oder Charitas das Recht zur brüderlichen
Zurechtweisung (correctio fraterna) des Näch-
sten erhält, der in große geistige Gefahr oder Not
geraten ist, so liegt in diesem Fall deshalb keine
Verletzung der Gewissensfreiheit vor, weil es sich
um die hochherzige Errettung vom geistigen Er-
trinkungstod und die Wiederaufrichtung des be-
drohten oder gefallenen Gewissens handelt.
Die verbreitetste Form berechtigter Gewissens-
beeinflussung liegt auf dem weiten und wichtigen
Gebiet der Erziehung, die den Gegenstand
der Pädagogik bildet. In erster Linie ist es Recht
und Pflicht der Eltern, das bildungsbedürftige
Gewissen ihrer Kinder durch Ermahnungen zum
Guten, heilsame Ratschläge und zugkräftiges Bei-
spiel für Gott und die Ewigkeit zu erziehen, das
Herz mit Begeisterung für das Gute und mit Ab-
scheu vor dem Bösen zu erfüllen und eventuell auch
durch Strafen ihnen die Bahn zum Laster zu ver-
sperren. Da gerade in der Jugend das Gewissen
am bildsamsten, aber auch am hilflosesten ist, so
kann das Verantwortlichkeitsgefühl der Eltern in
Sachenderrechten Kindererziehung nicht stark genug
geweckt und geschärft werden. Das gleiche gilt für
die Lehrer und Anstaltsleiter, die dem Elternhause
während der Schulzeit einen Teil der Erziehungs-
last abnehmen oder gar, wie in Findel= und
Waisenhäusern, die fehlende Familie gänzlich er-
setzen. Die älteste, geschickteste und erfolgreichste
Erzieherin des Menschengeschlechtes aber ist die
katholische Kirche, welche im Namen der Ge-
wissensfreiheit vor allem für sich selbst das unge-
schmälerte Recht in Anspruch nimmt, durch Pre-
digt, Christenlehre, Katechismusunterricht und
Sakramentenspendung das Gewissen ihrer Unter-
gebenen zur Gottesfurcht und Frömmigkeit, Sitt-
lichkeit der Lebensführung, Gehorsamswilligkeit
gegen Staat und Kirche anzuhalten. Im modernen
Rechtsstaat müssen auch die akatholischen Religions-
gemeinschaften nach paritätischem Maßstab auf
gleichem Fuß behandelt werden, indem sie das
verbriefte Recht genießen, das Gewissen ihrer An-
hänger nach den Grundsätzen zu bilden, welche sie
nach der Lehre ihrer Konfession für die richtigen
halten. Was sodann den Staat in seinem Ver-
hältnis zur sittlich-religtösen Erziehung und Ge-
wissensbildung betrifft, so kann er, da nur das
äußere Staatswohl und der Rechtsschutz zu seiner
Gewissen usw.
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Kompetenz gehören, unmöglich mit der Aufgabe
betraut gedacht werden, die Gewissenserziehung
seiner Untertanen unmittelbar in die Hand zu
nehmen; dies ist ausschließlich Sache der Familie
und der Kirche sowie der verschiedenen Konfessionen,
die sich friedlich in seinem Schoße festgesetzt haben.
Insbesondere die Erteilung und Leitung des Re-
ligionsunterrichtes, von dem die Gewissenspflege
in erster Linie ausgeht, muß er den berufenen
kirchlichen Organen allein überlassen, wenn er sich
die widerspruchsvolle Zumutung ersparen will, daß
er als Religionslehrer der entgegengesetztesten reli-
giösen Anschauungen zugleich als Katholik, Luthe-
raner, Reformierter und Jude in einer Person
auftrete. Schon der bloße staatliche Auftrag zur
Erteilung des Religionsunterrichtes schützt vor
diesem rollenwidrigen Selbstwiderspruch nicht. Der
Staat wird seine Ziele vollauf auch indirekt da-
durch erreichen, daß er den verschiedenen, staatlich
anerkannten Bekenntnissen die nötigen Mittel zur
Unterhaltung der christlichen Volksschule gewährt
und sein unleugbares Aufsichtsrecht auf den welt-
lichen Unterricht beschränkt, dabei aber der Kirche
ihr historisches und rechtliches Mitaufsichtsrecht
auch über die ganze katholische Schule nicht ver-
kümmert, weil es ausgemacht ist, daß die Schule
keine bloße Unterrichtsanstalt, sondern auch eine
Erziehungsanstalt sein will und muß. In der
Harmonie zwischen Familie, Kirche und Staat
auf dem Boden gegenseitiger Verständigung ist
für die Heranbildung guter Christen und gewissen-
hafter Bürger die natürlichste und erfolgreichste
Gewähr zu suchen. Näheres siehe in d. Art. Er-
ziehung, Volksschulen.
2. Unter Gewissensfreiheit versteht das Frei-
denkertum das unbeschränkte Recht, in Sachen des
Gewissens nicht nur zu denken, sondern auch zu
reden und zu tun, wie man will. Das
Nietzschesche Ubermenschentum mit seiner sittlichen
Willkür, seiner „Umwertung aller Werte“, seiner
systematischen Unterdrückung des Gewissens und
Verwischung der Grenzen zwischen gut und bös
stellt die modernste Gestaltung dieser Art von
dämonischer Gewissensfreiheit dar. Allerdings ist
diese neueste Lebensphilosophie nichts weniger als
neu; denn Antinomismus und Libertinage hat es
in allen Zeitaltern gegeben, von Protagoras an-
gefangen bis Nietzsche. Die von Matthias Knutsen
1674 in Jena begründete Sekte der sog. „Ge-
wissener“ (conscientiarl#) berief sich zur Mas-
kierung ihrer unsittlichen Lehren ausdrücklich auf
das Gewissen als einzige Norm ihres Denkens
und Handelns ohne Rücksicht auf Gott und Gesetz,
brachte aber die Universität Jena durch ihr Prahlen
mit unerhörten Erfolgen unter den Studenten in
einen so üblen Ruf, daß der Theologieprofessor
Dr Joh. Musäus 1674 eine eigene Verteidigungs-
schrift abzufassen für nötig fand. Daß die katho-
lische Kirche eine solche Gewissensfreiheit nicht nur
nicht anerkennt, sondern mit tiefstem Abscheu von
sich weist, bedarf keiner besondern Hervorhebung.