Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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die amtliche Pflicht zu, das Gewissen der Unter- 
gebenen sogar gegen ihren Willen im Sinne der 
Wahrheit und Rechtschaffenheit ethisch zu beein- 
flussen, zu wecken und auszubilden. So darf der 
Strafrichter in Ausübung seines Amtes den Ver- 
brecher ohne Gewissenszwang ernstlich ermahnen, 
durch ein offenes Geständnis sein schwer belastetes 
Gewissen zu erleichtern. Die Kirche übt keine Ge- 
wissenstyrannei aus, wenn sie ihren Amtspersonen 
vor der Ubertragung eines wichtigen Kirchenamtes 
das Glaubensbekenntnis abverlangt, wie auch der 
Staat seinen Beamten mit Recht den Verfassungs- 
eid auferlegt. Wenn zuweilen auch die chriftliche 
Liebe oder Charitas das Recht zur brüderlichen 
Zurechtweisung (correctio fraterna) des Näch- 
sten erhält, der in große geistige Gefahr oder Not 
geraten ist, so liegt in diesem Fall deshalb keine 
Verletzung der Gewissensfreiheit vor, weil es sich 
um die hochherzige Errettung vom geistigen Er- 
trinkungstod und die Wiederaufrichtung des be- 
drohten oder gefallenen Gewissens handelt. 
Die verbreitetste Form berechtigter Gewissens- 
beeinflussung liegt auf dem weiten und wichtigen 
Gebiet der Erziehung, die den Gegenstand 
der Pädagogik bildet. In erster Linie ist es Recht 
und Pflicht der Eltern, das bildungsbedürftige 
Gewissen ihrer Kinder durch Ermahnungen zum 
Guten, heilsame Ratschläge und zugkräftiges Bei- 
spiel für Gott und die Ewigkeit zu erziehen, das 
Herz mit Begeisterung für das Gute und mit Ab- 
scheu vor dem Bösen zu erfüllen und eventuell auch 
durch Strafen ihnen die Bahn zum Laster zu ver- 
sperren. Da gerade in der Jugend das Gewissen 
am bildsamsten, aber auch am hilflosesten ist, so 
kann das Verantwortlichkeitsgefühl der Eltern in 
Sachenderrechten Kindererziehung nicht stark genug 
geweckt und geschärft werden. Das gleiche gilt für 
die Lehrer und Anstaltsleiter, die dem Elternhause 
während der Schulzeit einen Teil der Erziehungs- 
last abnehmen oder gar, wie in Findel= und 
Waisenhäusern, die fehlende Familie gänzlich er- 
setzen. Die älteste, geschickteste und erfolgreichste 
Erzieherin des Menschengeschlechtes aber ist die 
katholische Kirche, welche im Namen der Ge- 
wissensfreiheit vor allem für sich selbst das unge- 
schmälerte Recht in Anspruch nimmt, durch Pre- 
digt, Christenlehre, Katechismusunterricht und 
Sakramentenspendung das Gewissen ihrer Unter- 
gebenen zur Gottesfurcht und Frömmigkeit, Sitt- 
lichkeit der Lebensführung, Gehorsamswilligkeit 
gegen Staat und Kirche anzuhalten. Im modernen 
Rechtsstaat müssen auch die akatholischen Religions- 
gemeinschaften nach paritätischem Maßstab auf 
gleichem Fuß behandelt werden, indem sie das 
verbriefte Recht genießen, das Gewissen ihrer An- 
hänger nach den Grundsätzen zu bilden, welche sie 
nach der Lehre ihrer Konfession für die richtigen 
halten. Was sodann den Staat in seinem Ver- 
hältnis zur sittlich-religtösen Erziehung und Ge- 
wissensbildung betrifft, so kann er, da nur das 
äußere Staatswohl und der Rechtsschutz zu seiner 
Gewissen usw. 
  
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Kompetenz gehören, unmöglich mit der Aufgabe 
betraut gedacht werden, die Gewissenserziehung 
seiner Untertanen unmittelbar in die Hand zu 
nehmen; dies ist ausschließlich Sache der Familie 
und der Kirche sowie der verschiedenen Konfessionen, 
die sich friedlich in seinem Schoße festgesetzt haben. 
Insbesondere die Erteilung und Leitung des Re- 
ligionsunterrichtes, von dem die Gewissenspflege 
in erster Linie ausgeht, muß er den berufenen 
kirchlichen Organen allein überlassen, wenn er sich 
die widerspruchsvolle Zumutung ersparen will, daß 
er als Religionslehrer der entgegengesetztesten reli- 
giösen Anschauungen zugleich als Katholik, Luthe- 
raner, Reformierter und Jude in einer Person 
auftrete. Schon der bloße staatliche Auftrag zur 
Erteilung des Religionsunterrichtes schützt vor 
diesem rollenwidrigen Selbstwiderspruch nicht. Der 
Staat wird seine Ziele vollauf auch indirekt da- 
durch erreichen, daß er den verschiedenen, staatlich 
anerkannten Bekenntnissen die nötigen Mittel zur 
Unterhaltung der christlichen Volksschule gewährt 
und sein unleugbares Aufsichtsrecht auf den welt- 
lichen Unterricht beschränkt, dabei aber der Kirche 
ihr historisches und rechtliches Mitaufsichtsrecht 
auch über die ganze katholische Schule nicht ver- 
kümmert, weil es ausgemacht ist, daß die Schule 
keine bloße Unterrichtsanstalt, sondern auch eine 
Erziehungsanstalt sein will und muß. In der 
Harmonie zwischen Familie, Kirche und Staat 
auf dem Boden gegenseitiger Verständigung ist 
für die Heranbildung guter Christen und gewissen- 
hafter Bürger die natürlichste und erfolgreichste 
Gewähr zu suchen. Näheres siehe in d. Art. Er- 
ziehung, Volksschulen. 
2. Unter Gewissensfreiheit versteht das Frei- 
denkertum das unbeschränkte Recht, in Sachen des 
Gewissens nicht nur zu denken, sondern auch zu 
reden und zu tun, wie man will. Das 
Nietzschesche Ubermenschentum mit seiner sittlichen 
Willkür, seiner „Umwertung aller Werte“, seiner 
systematischen Unterdrückung des Gewissens und 
Verwischung der Grenzen zwischen gut und bös 
stellt die modernste Gestaltung dieser Art von 
dämonischer Gewissensfreiheit dar. Allerdings ist 
diese neueste Lebensphilosophie nichts weniger als 
neu; denn Antinomismus und Libertinage hat es 
in allen Zeitaltern gegeben, von Protagoras an- 
gefangen bis Nietzsche. Die von Matthias Knutsen 
1674 in Jena begründete Sekte der sog. „Ge- 
wissener“ (conscientiarl#) berief sich zur Mas- 
kierung ihrer unsittlichen Lehren ausdrücklich auf 
das Gewissen als einzige Norm ihres Denkens 
und Handelns ohne Rücksicht auf Gott und Gesetz, 
brachte aber die Universität Jena durch ihr Prahlen 
mit unerhörten Erfolgen unter den Studenten in 
einen so üblen Ruf, daß der Theologieprofessor 
Dr Joh. Musäus 1674 eine eigene Verteidigungs- 
schrift abzufassen für nötig fand. Daß die katho- 
lische Kirche eine solche Gewissensfreiheit nicht nur 
nicht anerkennt, sondern mit tiefstem Abscheu von 
sich weist, bedarf keiner besondern Hervorhebung.
	        
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