Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Schon das natürliche Sittengesetz und das Ge- 
wissen protestieren dagegen ebenso laut wie über- 
haupt alle positiven Religionen, welche entweder 
auf christlichem Boden stehen, wie die protestan- 
tischen Bekenntnisse, oder wenigstens den Theismus 
anerkennen, wie das Judentum und der Islam. 
Deshalb beansprucht auch die katholische Kirche in 
Glaubens= und Sittensachen für sich das Recht 
der Strafgewalt nicht minder wie der Staat auf 
allen Gebieten, die zu seiner Rechtssphäre gehören. 
Eine sehr schwierige Frage hingegen entsteht in 
der Bestimmung der Grenzen, bis zu denen der 
Staat in der Gewährung einer ungehemmten 
Außerung der religiös-sittlichen Uberzeugung in 
Wort oder Schrift gehen darf. Nun kann es nicht 
dem geringsten Zweifel unterliegen, daß dem 
Staate die Gewährung einer schrankenlosen 
Gewissensfreiheit ebenso unmöglich ist als das 
Zugeständnis einer unbeschränkten Religionsfrei- 
heit. Würde dieses Sichgehenlassen doch gleich- 
bedeutend sein mit der Freigabe aller Art von 
Irreligiosität, Unsittlichkeit, Roheit und Torheit, 
womit jedes geordnete und friedliche Zusammen- 
leben der Staatsuntertanen einfachhin zur Unmög- 
lichkeit würde. Die stürmische Forderung der 
Schrankenlosigkeit des Gewissens, wie sie manchen 
Herrenmenschen, Vertretern der „Nacktkultur“ 
und der sog. „unabhängigen Moral“ als Ideal 
vorschwebt, ist im Grunde genommen nur ein 
Aushängeschild für schamlose Gewissenlosigkeit, 
für die es kein Recht im Himmel und auf Erden 
gibt und geben kann. Man möchte gerne den 
Staatsmann und das endliche Schicksal eines 
Staates einmal sehen, der den Diebstahl und 
Meuchelmord als erlaubt zulassen oder straffrei 
ausgehen lassen wollte. Nur zu bald würde sich 
zeigen, daß eine Rotte von Spitzbuben und Re- 
volverhelden keine menschliche Gesellschaft mehr 
wäre, sondern eine Menagerie wilder Tiere: der 
atheistische Revolutionsstaat Frankreichs hat eine 
drohende Warnungstafel aufgerichtet für ewige 
Zeiten. Selbst die gegenwärtige, im Atheismus 
ihr Heil suchende Republik der Franzosen besitzt 
Einsicht und Selbstbeherrschung genug, um nicht 
alles zu gestatten, was das schwankende Staats- 
schiff unter der Flagge ungehemmter Gewissens- 
freiheit auf Klippen und Untiefen führen und 
einen sichern Schiffbruch in Aussicht stellen würde. 
Die staatsgefährlichen Machenschaften der anti- 
patriotischen Hervéisten, die durch Untergrabung 
des Patriotismus und des militärischen Gehor- 
sams im Heere das Vaterland in äußerste Gefahr 
bringen, kann auch eine Jakobinerregierung nicht 
ruhig gewähren lassen. Wie weit freilich der 
Staat die Grenzen im einzelnen stecken darf, bis 
zu denen die Gewissensfreiheit im Sinne von 
Duldung des an sich Schlechten und Uner- 
laubten zu gestatten ist, darüber läßt sich schwer- 
lich eine bestimmte Regel aufstellen. Von vorn- 
herein ist klar, daß der Staat weder die Befugnis 
noch die Machtmittel besitzt, alle Sünden und 
Gewissen ufw. 
  
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Missetaten seiner Untertanen, welche überall vor- 
kommen oder vorkommen können, aufzuspüren, zu 
unterdrücken, zu verhindern und zu bestrafen. In 
einem solchen Polizeistaat ließe sich schlechterdings 
nicht leben und selbst eine Religionsgemeinschaft, 
deren Kirchendiener zur Aufspürung und Anzeige 
von Verbrechen in alle Häuser und Familien ein- 
drängen, sähe sich von ihren Schäflein bald ver- 
lassen. Im allgemeinen wird der Staat seiner 
Aufgabe entsprechend nur solche Verbrechen zur 
Rechenschaft ziehen, welche die äußere Rechts- 
ordnung gröblich verletzen und die Sicherheit des 
Staatswesens und des Bürgertums ernstlich in 
Frage stellen. Aber auch hier darf er zu einem 
ehrlichen Gewissensirrtum, wie z. B. Verweige- 
rung des Eides, sich ganz anders stellen als zum 
gemeinen Verbrechen, wie z. B. Mädchenhandel 
und öffentlicher Unsittlichkeit. Es kann nämlich 
eine ehrliche, auf unüberwindlichem Irrtum be- 
ruhende Gewissensüberzeugung geben, die den 
Irrenden in seinem Gewissen zu etwas verpflichtet, 
was der Staat von seinem Standpunkte aus ent- 
weder gebieten oder verbieten muß. Ohne auf 
sein gutes Recht, eventuell unter Anwendung von 
Gewalt die Erfüllung des Staatsgebotes zu er- 
zwingen, Verzicht leisten zu müssen, wird er zur 
mööglichsten Vermeidung von Gewissenszwang über- 
all da Milde und Nachsicht walten lassen, wo das 
falsche Gewissen des renitenten Untertans nicht 
aus Frivolität und Gottlosigkeit, sondern vielmehr 
aus wahrer Religiosität und persönlicher Fröm- 
migkeit hervorgeht. Deshalb gestattet das Gesetz 
den Mennoniten, die wegen angeblicher Unerlaubt= 
heit des Eides nicht schwören dürfen, daß sie statt 
der üblichen Eidesformel die in ihrer Sekte an 
Eides Statt zugelassene Beteuerungsformel gebrau- 
chen, während sonst nach § 69 der deutschen Straf- 
prozeßordnung die Ablehnung des Eides aller- 
dings mit Geld= und Haftstrafe bedroht wird. 
Freilich würde der Staat in die ärgste Verlegen- 
heit geraten, wenn nicht etwa nur in selteneren 
Fällen, sondern in geschlossenen Massen solche auf- 
richtige Gewissensirrtümer um sich griffen, die den 
Bestand des Staates in seinen Grundfesten er- 
schütterten. Auf das seltsame Gewissensverbot 
des sektiererischen „Bundes der christlich getauften 
Gläubigen“, eine Waffe oder ein Gewehr anzu- 
rühren, kann vielleicht im einen oder andern Aus- 
nahmefall Rücksicht genommen werden, wenn auch 
die Heeresverwaltung aus Achtung vor der Ge- 
wissensfreiheit dazu durchaus nicht verpflichtet 
wäre. Aber wenn das ganze deutsche Heer, wie 
von einer Massensuggestion ergriffen, sich zu einer 
solchen verderblichen Uberzeugung bekennte, wie 
unlängst der elsässische Gardegrenadier Tröhler, 
so wäre ja das deutsche Vaterland macht- und 
wehrlos den Händen seiner Feinde ausgeliefert. 
Verständige Belehrung und Aufklärung durch die 
Militärgeistlichkeit dürfte auch hier mehr aus- 
richten als schroffe Anwendung von Zwangs- 
gewalt.
	        
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