Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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und Portugal zur Verteidigung des historischen 
Rechts und des Legitimitätsprinzips. Dieser Po- 
litik entsagte zuerst England anläßlich der Be- 
freiungskämpfe der Griechen gegen die Türken 
(1821/29) und seit der Julirevolution (1880) 
auch Frankreich. Die Pentarchie schied sich nun- 
mehr in zwei Staatengruppen, einerseits England 
und Frankreich (die Westmächte), anderseits Ruß- 
land, Preußen und Osterreich (die Ostmächte) um- 
fassend. In der gegenseitigen Uberwachung dieser 
beiden Staatengruppen, damit keine von ihnen 
das Ubergewicht erlange, bestand fortan das euro- 
päische Gleichgewicht; dadurch wurde für längere 
Zeit vermöge der Maxime der Nichtintervention 
(die Einmischung wurde um so eifriger insgeheim 
betrieben) die Durchbrechung der durch den Wiener 
Kongreß geschaffenen Vertragsverhältnisse hinaus- 
geschoben. Da jedoch die Westmächte für die Auf- 
rechthaltung der vertragsmäßig garantierten Rechts- 
zustände wenig Eifer an den Tag legten, war es 
nicht zu verwundern, daß Rußland seine eigenen 
Wege ging, die alte Forderung der Schutzherrlich- 
keit über allechristlichen Vasallenstaaten und Völker- 
schaften auf der Balkanhalbinsel abermals erhob 
und nach Zurückweisung dieser Forderung die 
Donaufürstentümer besetzte. Nachdem es im Krim- 
kriege (1854/56) den mit der Türkei verbündeten 
Westmächten (England, Frankreich, Sardinien) 
erlegen war, mußte es sich den Bedingungen des 
Pariser Friedens (30. März 1856) fügen. Der- 
selbe verpflichtete Rußland zur Nichtbefestigung 
der Alandsinseln, zur Abtretung eines im Frie- 
den von Adrianopel (1829) erworbenen Teiles 
von Bessarabien an die Moldau und zur Aner- 
kennung der Neutralisierung des Schwarzen 
Meeres, nahm anderseits die Türkei in die euro- 
päische Rechts= und Staatengemeinschaft auf, 
garantierte ihre Unabhängigkeit und ihren Terri- 
torialbestand, erklärte jedes dagegen gerichtete Vor- 
gehen für eine Frage von allgemein europäischem 
Interesse und stellte für den Fall einer Meinungs- 
verschiedenheit zwischen der Pforte und einer der 
kontrahierenden Mächte eine europäische Vermitt- 
lung in Aussicht. Voraussetzung dieser dem Otto- 
manischen Reiche gemachten Zugeständnisse war 
allerdings die Anerkennung des europäischen öffent- 
lichen Rechts in Justiz und Verwaltung. 
e. Die in der Geschichte des europäischen Gleich- 
gewichts epochemachenden Friedensschlüsse (1648, 
1713, 1815, 1856) hatten das Gleichgewicht der 
Staaten hauptsächlich nach historisch-geographischen 
Gesichtspunkten zu sichern gesucht. Das natio- 
nale Element war bei der Neugestaltung der 
Staatenverhältnisse nicht ausschlaggebend gewesen. 
Das politische Gleichgewicht durch den Zusammen- 
schluß der Nationalitäten und das plebiszitäre 
Selbstbestimmungsrecht zu bewerkstelligen, lag im 
Plane Napoleons III. „Durch den Willen der 
Nation“ Kaiser der Franzosen, hat er dem alten 
europäischen, dem sog. historischen Rechte, dem 
Rechte der Legitimität und der Verträge, das 
Gleichgewicht, politisches. 
  
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„neue Recht“, das Recht des Stärkeren, das Recht 
der Majorität und des allgemeinen Volkswillens 
entgegengestellt. Die dadurch entfachten Natio- 
nalitätskriege verdrängten Dänemark aus Deutsch- 
land, Osterreich aus Italien und Deutschland, 
hoben allerdings die Zersplitterung Deutschlands 
und Italiens in souveräne Kleinstaaten auf, ver- 
wandelten beide in geschlossene Nationalgroß- 
staaten und beseitigten dadurch einige der Ursachen 
beständiger Zwistigkeiten und Eifersüchteleien. 
Indessen gestaltete sich auch für Frankreich selbst 
dieser Umschwung in dan staats- und völkerrecht- 
lichen Maximen nicht heilbringend. Die Erschüt- 
terung seiner dominierenden Stellung und der Ver- 
lust des Elsaß und eines Teiles von Lothringen 
war die Folge und für Europa die heikle Lage des 
bewaffneten Friedens. 
3. Die Gleichgewichtsverhältnisse 
seit dem Berliner Vertrage. Seit dem 
Berliner Vertrage (13. Juli 1878), welcher den 
Präliminarfrieden von San Stefano (3. März 
1878), in welchem das siegreiche Rußland eine 
entscheidende Position zu erlangen trachtete, einer 
durchgreifenden Korrektur unterzog, gestaltete sich 
das Einvernehmen zwischen dem Deutschen Reiche 
und der österreichisch-ungarischen Monarchie zu- 
sehends freundschaftlicher, in allen politischen 
Fragen von prinzipieller Tragweite übereinstim- 
mender. Beweis hierfür ist der Bündnisvertrag 
zwischen Osterreich-Ungarn und Deutschland (vom 
7. Okt. 1879, veröffentlicht 3. Febr. 1888), er- 
weitert 1883 durch den Anschluß Italiens. Er 
ist abgeschlossen zur Gewährleistung der durch den 
Berliner Vertrag geschaffenen Gleichgewichtsver- 
hältnisse, schließt jede angriffsweise Tendenz nach 
irgend einer Richtung aus und enthält drei Ar- 
tikel, welche für die entsprechenden Maßnahmen 
gegen eine wider Verhoffen von Rußland, Frank- 
reich oder von beiden einem oder allen Kontra- 
henten drohende Kriegsgefahr Vorsorge treffen, 
und zwar im Sinne vollständiger Solidarität im 
Falle des Krieges wie des Friedensschlusses. Zu 
diesem Dreibunde, welcher schon wiederholt ver- 
längert wurde, ist die Vereinigung derselben Staa- 
ten mit Belgien und der Schweiz zur Gewähr- 
leistung der wirtschaftlichen Interessenübereinstim- 
mung (Dez. 1891) getreten. Immerhin darf man 
in diesem mitteleuropäischen Handelsbündnisse die 
Anfänge einer europäischen Zollunion erblicken. 
Ein Menschenalter konnte am Berliner Ver- 
trage nicht spurlos vorübergehen. Einige der 
Rechtszustände, die er geschaffen, wurden durch die 
Berliner Nachkonferenz 1880 vervollständigt, 
manche durch gewaltsame Veränderungen verscho- 
ben. Immerhin gehört er zu den wichtigsten Ur- 
kunden des Völkerrechts der Gegenwart, schon 
vermöge des Grundsatzes, daß die Reglung der 
Verhältnisse auf dem Balkan die Interessen aller 
europäischen Großstaaten berühre und daher im 
wechselseitigen Einvernehmen zu erfolgen habe, 
wie überhaupt alles, was die Einrichtungen und
	        
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