Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Schiedsgerichts= u. Friedensfrage behandelt, so 
unter anderem bei Konst. Frantz, Weltpolitik 
(3 Bde, 1882 f); Treitschke, Politik 1 (1897); No- 
wikow, Die Föderation Europas (1901). Vgl. auch 
E. Kaeber, Die Idee des europ. G. in der publizist. 
Lit. vom 16. bis zur Mitte des 18. Jahrh. (1907; 
Disf.). (Lentner.) 
Gleichheit. (Einleitung; Gleichheit und 
Ungleichheit der Menschen; Das Verlangen nach 
Gleichheit des Besitzes, der Bildung unter den Ge- 
sichtspunkten des Rechts und der Politik; Schluß.) 
1. Einleitung. Die Entwicklung der Kultur 
scheint an einem innern Widerspruche zu kranken. 
Im Gegensatze zur heidnischen Sklaverei, welche 
einen Teil der Menschheit zur Sache erniedrigt 
hatte, berief das Christentum alle Menschen gleich- 
mäßig zur Freiheit und Gotteskindschaft, und die 
frohe Botschaft des Evangeliums überwand, wenn 
auch nicht mit einem Schlage, so doch in stetiger 
Wirksamkeit jenes Grundübel der antiken Gesell- 
schaft. Heutzutage sind in den meisten Kulturlän-= 
dern die Privilegien der Geburt und Abstammung 
verschwunden; vor dem Gesetze sind alle gleich, 
der Erbe eines alten, historischen Namens und der 
Sohn des Taglöhners. Beiden gegenüber wird 
die Gesetzesübertretung in gleicher Weise geahndet, 
beiden steht — theoretisch wenigstens — in gleichem 
Maße der Schutz des Rechtes zur Seite. Nie- 
mand hat mehr auf Grund seiner Zugehörigkeit 
zu einem besondern Stande ein Vorrecht auf Ehre 
oder Gewinn bringende Stellen im Staatsleben; 
der Zugang zu den öffentlichen Amtern ist für alle 
an die gleichen Voraussetzungen geknüpft. Selbst 
die politischen Rechte sind in vielen Staaten in- 
sofern gleich verteilt, als die gesamte männliche 
Bevölkerung von einem gewissen Alter an ohne 
Rücksicht auf Steuerzensus oder Lebensstellung zur 
Wahl von Abgeordneten in die Vertretungskörper 
berufen ist. 
Während die Rechtsgleichheit solcher- 
gestalt einen Grundpfeiler des heutigen Staats- 
lebens bildet, sehen wir gleichzeitig vielerorts das 
Streben dahin gerichtet, möglichst alle der gleichen 
Bildung teilhaftig zu machen; an den Ergeb- 
nissen der wissenschaftlichen Forschung, an den 
Erzeugnissen der schönen Literatur, an den Werken 
der Kunst sollen möglichst alle teilnehmen; auch 
die Bildung soll nicht ein Vorzug der Reichen 
und Vornehmen sein, sie soll allen zugute kommen. 
Und wer wollte leugnen, daß die Kinder in unsern 
Dorsschulen Kenntnisse aufweisen, um welche die 
Gelehrten vergangener Jahrhunderte sie beneiden 
müßten? Alsdann bleibt, so scheint es, nur noch 
ein Schritt zu tun: die Gleichberechtigten und 
Gleichgebildeten auch gleichzumachen in Besitz 
und Genuß, ihnen auch die materiellen Güter 
der modernen Zivilisation in gleichem Maße zu- 
fließen zu lassen. Wie aber soll das geschehen, da 
unsere ganze Zivilisation auf der Ungleichheit auf- 
gebaut ist? Wir erfreuen uns der staunenswerten 
Leistungen unserer Technik und der wunderbaren 
Gleichheit. 
  
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Steigerung und Erleichterung des Weltverkehrs; 
in den großen Hauptstädten findet man die Boden- 
erzeugnisse fremder Himmelsstriche im Vereine mit 
den herrlichsten Leistungen einer gesteigerten In- 
dustrie. Aber Tausende und Tausende müssen 
graben, pflügen, hämmern, spinnen, nähen, müssen 
sich tagtäglich in harter, einförmiger Arbeit ab- 
mühen, damit jene Güter zustande gebracht wer- 
den. Den verhältnismäßig wenigen, welche, auf 
der Höhe des irdischen Lebens stehend, sich aller 
Bequemlichkeiten bedienen, jeden Luxus sich ver- 
statten, jeden Genuß auskosten können, steht das 
große Heer der Erdarbeiter mit Hacke und Spaten, 
der Schmiede an rußiger Esse, der Bergleute und 
Fabrikarbeiter, der Taglöhner und der Bedien- 
steten in allen möglichen Stellungen gegenüber. 
Sie sind es, welche in vielfach geteilter und wieder 
ineinander greifender Tätigkeit jene Güter er- 
zeugen und nach den Gebrauchsstellen führen; 
aber nur ein geringer Teil davon fällt ihnen selbst 
zu. Was den Stolz und Glanz des Jahrhunderts 
ausmacht, was in wenigen Händen ungeheure 
Reichtümer zusammenfließen läßt, für sie ist es 
nur das Mittel, ihren und der Ihrigen täglichen 
Lebensunterhalt zu verdienen. Die charakteristi= 
schen Merkmale unserer heutigen Produktion sind 
Massenleistung, Maschinentechnik, Arbeitsteilung 
und als Voraussetzung hiervon, ebenso wie als 
immer neu sich bestätigendes Resultat, die Tren- 
nung von Kapital und Arbeit. Mögen alle die 
gleichen Rechte, mögen sie die gleiche Bildung be- 
sitzen, es bleibt der uralte Unterschied von reich 
und arm; ja an seine Verewigung ist, so scheint 
es, unsere moderne Zivilisation gebunden; denn 
mit seinem Fortfall würden die Hände in Weg- 
fall kommen, von deren emsiger Arbeit der Be- 
stand derselben abhängt. 
An diesem Punkee setzt die revolutionäre Partei 
der Gegenwart ein. Sie erklärt den geschilderten 
Sachverhalt für eine schreiende Verletzung des 
Gleichheitsprinzips und darum der Gerechtigkeit. 
Ihre Forderung ist, daß auch jener letzte Unter- 
schied weggeräumt und den berechtigten Ansprüchen 
der gleichgeborenen Menschen auf gleiche Existenz- 
bedingungen Erfüllung zuteil werde. Diese 
Erfüllung kann selbstverständlich nur durch eine 
völlige Umwälzung der heutigen Gesellschafts- 
ordnung und der heutigen Produktionsweise zu- 
stande kommen. Wenn das Privatkapital ver- 
schwunden ist, wenn alle Produktionsmittel in den 
Besitz des gesamten Volkes übergegangen sein 
werden, dann werden die sämtlichen Glieder des 
Volkes gleich sein, nicht nur an Rechten und Bil- 
dung, sondern auch in Arbeit und Genuß. 
Das leidenschaftliche Verlangen nach Gleich- 
heit war seinerzeit der stärkste Faktor in der 
französischen Revolution. Um die Gleichheit zu 
wahren gegenüber jedem Vorrecht einer Korpora- 
tion, eines Standes oder einer einzelnen Person, 
verzichtete man lieber auf die Freiheit des poli- 
tischen Lebens, war man bereit, die in gleichartige
	        
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