Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Atome zerschlagene Gesellschaft einer mit den wei- 
testgehenden Machtbefugnissen versehenen Zentral- 
gewalt auszuliefern. Mit dem Vorgeben, daß die 
sozialdemokratische Umgestaltung der 
Gesellschaft endlich die volle Verwirklichung der 
Gleichheit bringen werde, entflammen die Führer 
auch jetzt wieder die mit ihrem Lose unzufriedenen 
Massen. Daß aber jeder Versuch, das Programm 
in die Tat zu übersetzen, nur mit Aufbietung un- 
erhörter Zwangsmittel, nur durch eine totale Ver- 
gewaltigung aller und jeder Freiheit gemacht wer- 
den könnte und daß trotzdem jeder solche Versuch 
an seiner innern Unmöglichkeit scheitern müßte, 
braucht an dieser Stelle nicht des weiteren aus- 
geführt zu werden. Hier ist vielmehr die Aufgabe, 
gegenüber sowohl jenen geschilderten tatsächlichen 
Verhältnissen als dem Zauber, welchen das Schlag- 
wort auch heute auszuüben nicht aufhört, das 
Wesen der Gleichheit festzustellen und die daraus 
sich ergebenden rechtlichen und politischen Anfor- 
derungen zu bestimmen. 
2. Gleichheit und Ungleichheit der Men- 
schen. Die Menschen sind von Natur gleich, d. h. 
sie haben sämtlich die gleiche geistig-leibliche Or- 
ganisation, sind denselben physischen und mora- 
lischen Gesetzen unterworfen, haben sämtlich die 
gleiche Aufgabe und das gleiche Endziel: für das 
Diesseits die Auswirkung der vollen menschlichen 
Persönlichkeit in Unterordnung unter das Sitten- 
gesetz, und dazu den andauernden Besitz und Ge- 
nuß abschließender Vollendung im Jenseits. Zu 
diesem, was die theistisch-teleologische Philosophie 
erweist, fügt das Christentum die Anwartschaft 
auf die beseligende, durch die Gnade vermittelte 
Vereinigung mit Gott in Erkenntnis und Liebe 
hinzu. Aber dieser natürlichen Gleichheit steht 
nach andern Beziehungen eine ebenso in der Natur 
begründete, steht die durch das gesellschaftliche 
Zusammenleben bedingte und endlich die durch 
naturgemäße Entwicklung des menschlichen Lebens 
gesteigerte und befestigte Ungleichheit gegen- 
über. In der Natur begründet sind die Unter- 
schiede des Alters und Geschlechtes. Trotz aller 
Deklamationen von der notwendigen Gleichstel- 
lung der Frauen bleibt doch die Tatsache bestehen, 
daß entsprechend dem natürlichen Berufe der Frau 
der weibliche Organismus, und zwar nicht nur 
nach der physischen, sondern auch nach der seeli- 
schen Seite, so tiefgreifende Unterschiede aufweist, 
daß eine ausnahmslose Beteiligung an der Be- 
schäftigung und Lebensweise des Mannes unmög- 
lich ist. Aber auch die Ungleichheit der körperlichen 
und geistigen Begabung, die Verschiedenheit der 
Talente und Charaktereigenschaften ist eine un- 
leugbare Tatsache, für welche jede Kinderstube die 
deutlichsten Belege gibt. Wenn etwa die sozial- 
demokratische Anthropologie diese Tatsache mit 
Hilfe des Atavismus als die Folge der in der 
historischen Gesellschaft von Geschlecht zu Ge- 
schlecht fortgepflanzten Ungleichheit erklären will 
und uns, nachdem erst alle Klassenherrschaft be- 
Gleichheit. 
  
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seitigt sein und die kommunistische Organisation 
ihren Einfluß auszuüben begonnen haben wird, 
eine völlige Beseitigung dieser Unterschiede ver- 
heißt, so ist mit solchen durch nichts wahrscheinlich 
“ Utopien selbstverständlich nicht zu 
rechten. 
Zu der in der Beschaffenheit der einzelnen In- 
dividuen begründeten Ungleichheit kommt sodann 
die Ungleichheit der sozialen Stellung, welche sich 
jederzeit als eine unvermeidliche Folge des Zu- 
sammenlebens mehrerer herausstellt. Wo viele 
zusammen oder auch nur nebeneinander bestimmten 
Zwecken nachgehen, da ist das Vorhandensein 
einer anerkannten Autorität unentbehrlich, welche 
anordnet, befiehlt und in rechtlicher Weise zwingt. 
Jekomplizierter sich das Leben einer solchen mensch- 
heitlichen Vereinigung gestaltet, je mannigfaltiger 
die Zwecke und Bedürfnisse, je vielseitiger die 
Interessen werden, desto weniger wird ein aus- 
gebildeter Behördenorganismus zur Aufrechterhal- 
tung des Rechts und zur Wahrung und Förderung 
der gemeinen Wohlfahrt entbehrt werden können. 
Damit ist ein neues Moment der Ungleichheit in 
den verschiedenen Abstufungen von Befehlenden und 
Gehorchenden gegeben. Das Ideal der extremen 
Gleichheitsfanatiker ist daher konsequenterweise die 
Anarchie. Aber dieselbe widerstreitet so sehr der 
menschlichen Natur, daß sie sich auch in der Zu- 
kunft immer nur als Vorstufe für die Aufrichtung 
einer Gewaltherrschaft bewähren wird. Der sozial- 
demokratische Zukunftsstaat aber, der eine Regle- 
mentierung des gesamten Lebens bringen müßte, 
gegen welche die Einrichtungen des alten Polizei- 
staates zum Kinderspiel würden, hätte gegen diese 
Ungleichheit kein Heilmittel, als daß er reihum 
alle Bürger in kurzen Fristen zu der Bekleidung 
aller und jeder Amter beriefe, ein Ausweg, der 
alsbald seiner vollendeten Widersinnigkeit wegen 
aufgegeben werden müßte. 
Die natürliche Ungleichheit der Individuen wird 
gesteigert durch die Verschiedenheit des Besitzes. An 
dieser Stelle kann natürlich nicht auf die Lehre 
vom Eigentum in ihrem ganzen Umfange und die 
Frage der Berechtigung oder Nichtberechtigung 
des Privateigentums eingegangen werden. Richtig 
aber ist, daß die Anerkennung eines privaten und 
vererbbaren Eigentums jederzeit die ungleiche Ver- 
teilung der Güter zur Folge gehabt hat und auch 
eine periodisch vorgenommene Ausgleichung die 
stets wieder auftretende Verschiedenheit nicht end- 
gültig beseitigen könnte. Denn hier, in Erwerb 
und Verbrauch, in Verwaltung und Verwertung 
der materiellen Güter wird sich immer wieder die 
natürliche Ungleichheit der Besitzer geltend machen. 
Der ungleiche Besitz ist aber nur die Quelle wei- 
terer Verschiedenheiten: der Erziehung, Bildung, 
Sitte, Lebensweise. Von Anfang an finden sich 
die Kinder der besitzenden Stände in einer begün- 
stigten Lage. Der von den Eltern erworbene oder 
bewahrte Besitz gibt ihnen die gesicherte Grund- 
lage, auf welcher stehend sie sich für ein der Wissen-
	        
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