Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Görres, Johann Joseph v., eine der 
machtvollsten und eigenartigsten Persönlichkeiten 
Deutschlands in der ersten Hälfte des vorigen 
Jahrhunderts, glänzender Redner und Publizist 
sowie geistvoller Gelehrter, wurde geboren zu Ko- 
blenz am 25. Jan. 1776. Sein Vater betrieb dort 
im Haus „Zum Riesen“, an der Stelle, wo der 
heutige Gasthof gleichen Namens steht, einen Holz- 
handel; seine Mutter, eine geborene Mazza, war 
italienischer Abkunft. Die Eltern, schlichte Bürgers- 
leute, wußten nicht recht, was sie mit dem hoch- 
begabten, frühreifen Knaben anfangen sollten; so 
erzog er sich zum guten Teil selber. „Er sollte"“, 
wie Guido Görres in dem leider nicht vollendeten 
Lebensbild seines Vaters von ihm sagt, „nach Got- 
tes Fügung in einer geistigen Dürre und Mittel- 
losigkeit, als, exzentrischer Kopf eher zurückgestoßen 
als gefördert, am Vorabend einer der größten Um- 
wälzungen, welche die Welt je erschütterten, in dem 
stillen Hause seines Vaters am Rhein, einsam und 
sich selbst überlassen, aufwachsen.“ Seine tollen 
Jugendstreiche fanden manchmal allzu strenge Ahn- 
dung. Joseph war aber trotzdem ein pietätvoller 
Sohn und hing mit großer Liebe am Elternhause 
und an der schönen Stätte seiner Jugend, von der 
Guido Görres eine prächtige Schilderung ent- 
worfen hat. „Aus den Fenstern der Wohnstube 
sah der Blick über den Rhein hinüber, und der 
Rhein, der Schiffe und Flöße führte, war mit dem 
Wesen und Treiben von groß und klein in diesem 
alten rheinischen Hause aufs innigste verflochten. 
Sie durften ja nur wenige Schritte hinaustreten 
an das Ufer des Flusses, und das anmutige und 
großartige Bild rheinischer Natur und Geschichte 
entfaltete sich vor ihren Augen. Da thronte jen- 
seits über dem Strom die alte Bergfeste Ehren- 
breitstein mit ihren altertümlichen, malerischen 
Türmen und Bauten; und der Bergfeste zur 
Rechten und Linken zog die grüne Kette der Reb- 
hügel den Fluß entlang — aufwärts bis zu den 
Burgtürmen von Lahnstein und den Burgen von 
Rhense und Stolzenfels, abwärts in langem Bogen 
bis zum alten Andernach. Zu Füßen der schimmern- 
den Landesfeste, dicht am Strom, ruhte das kur- 
sürstliche Schloß, an das sich der eine oder andere 
adlige Ansitz der Hofherren anreihte. Zwei Gottes- 
häuser lagen mitten in dem Rhein auf Inseln, 
rings von seinen Wassern umspült; aufwärts das 
adlige Benediktiner-Frauenkloster Oberwörth, ab- 
wärts das altberühmte Zisterzienserkloster Nieder- 
wörth, das eine Reliquie seines Ordensstifters, des 
hl. Bernhard, bewahrte, eine Erinnerung an jene 
Tage, da er hier den Gottesdienst, als er das Kreuz 
am Rhein predigte, gefeiert. Dann diesseits links 
am „Deutschen Eck“, wo Rhein und Mosel, der 
Alpensohn und die lotharingische Jungfrau, sich 
vermählen, das Deutschherrenhaus, ein Denkmal 
der alten katholischen Frömmigkeit des Landes. 
An das deutsche Ordenshaus schlof sich die Stifts- 
kirche St Kastor, karolingische Denkmäler be- 
wahrend, würdig an; denn auch sie in ihrem byzan- 
Görres. 
  
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tinischen Stil ist eine ehrwürdige Zeugin jener 
alten heiligen Begeisterung und Kunst der rheini- 
schen Stämme, die so viel Dome und Gotteshäuser 
würdevoller Kunst die Ufer des Flusses entlang, 
von seiner Wiege in den Alpen hinab bis zu den 
volkreichen Städten der Niederlande, als Denk- 
male ihrer Gottesfurcht hoch zum Himmel hinan- 
gebaut."“ 
Die Eindrücke, welche das Auge empfing, wenn 
man von dem elterlichen Haus an den nahen Fluß 
trat und umherblickte, sind für die Entwicklung 
des jungen Görres von großer Bedeutung ge- 
wesen; sie erfüllten seine Jugendträume und be- 
gleiteten ihn durchs Leben. In der rheinfränkischen. 
Heimat und in dem Stamm, der sie bewohnt 
und ihr sein Gepräge aufgedrückt hat, wurzelte er 
im lebendigsten Sinn des Wortes. 
Mit neun Jahren besuchte er die Lateinschule, 
das alte Jesuitenkollegium. Auch seine Lehrer 
konnten ihren wunderlichen Schüler nicht begreifen 
und noch weniger den wißbegierigen Knaben mit 
ihrem Unterricht befriedigen. Er trieb auf eigene 
Faust, was ihn interessierte, besonders Geschichte, 
Geographie und Naturwissenschaft. Seine aus- 
drucksvolle bilderreiche Sprache erregte früh das 
Erstaunen der Lehrer. Als Schüler der vierten 
Klasse erhielt er im August 1789 das Zeugnis: 
Felicissimum ingenium, diligentia ingenio 
non satis Ccongrua, progressus satis magnus, 
mores pueriles. Mit 17 Jahren verließ er das 
Gymnasium; eine Universität hat er nie besucht, 
bis er selbst ein gefeierter Universitätslehrer wurde. 
„Autodidakt im umfassendsten Sinn des Wortes 
hat Görres niemals ein Doktorexamen oder eine 
Fakullätsprüfung bestanden und ist dennoch ein 
großer doctor Germaniae geworden“, sagt von 
ihm Heinrich in der Gedächtnisrede an seinem 
hundertsten Geburtstag, gehalten zu Koblenz am 
25. Jan. 1876. 
Als Görres noch nicht 13 Jahre zählte, kam 
die französische Revolution zum Ausbruch, in 
deren Verlauf 9 Erzbischöfe und Bischöfe, 6 Abte, 
der Deutschherren= und Johanniterorden, 76 
Fürsten und Grafen, 4 Reichsstädte und eine 
große Zahl Reichsritter jenseits des Rheins ihre 
Landeshoheit durch die Franzosen einbüßten. Am 
20. Okt. 1794 rückten die Franzosen in Koblenz 
ein. Wie fast alle feurigen jugendlichen Köpfe 
jener bewegten Zeit wendete auch der junge Görres 
sich der Politik und den Ideen zu, welche die Re- 
volution damals auch bei den besten Männern 
(u. a. Klopstock, Schiller, Friedrich Leopold v. 
Stolberg, Johannes v. Müller) hervorgerufen 
hatte. Wie in den monarchischen Staaten Europas 
überhaupt, so herrschten in den meisten deutschen 
Staaten heillose, teilweise geradezu verrottete Zu- 
stände; auch in den geistlichen Fürstentümern 
Mainz, Köln und Trier sah es, selbst in kirchlicher 
Hinsicht, traurig aus. In den ersten Jahrzehnten 
des 19. Jahrh. schienen Christentum und Kirche 
im öffentlichen Leben wie erstorben.
	        
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