Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Walpole, der auch unter Georg II. (1727/60) 
bis 1742 am Ruder blieb, kam der Entwicklung 
des Seehandels, der Landwirtschaft (Kartoffel- 
und Rübenbau und Viehzucht) und der Industrie 
zugute. Seit der Niederlage des Stuartpräten- 
denten Karl Eduard (1746) wurde England von 
keinem feindlichen Heere mehr betreten. Die glän- 
zende Wirksamkeit des älteren Pitt im See= und 
Kolonialkrieg gegen Frankreich (1755/63) erhob 
England zur ersten See= und Kolonialmacht; im 
Frieden von 1763 wurden vor allem Kanada 
und Loutsiana östlich vom Mississippi gewonnen. 
Gleichzeitig eroberte Robert Clive der Ostindischen 
Kompanie ein Reich in Vorderindien, dessen Ver- 
waltung durch die Ostindische Bill 1784 der Auf- 
sicht der Regierung unterstellt wurde, und die Ent- 
deckungsfahrten Cooks in der Südsee eröffneten 
der englischen Kolonisation neue Gebiete. Ander- 
seits führte der kleinliche Versuch, die durch die 
Handelspolitik des Mutterlandes erbitterten nord- 
amerikanischen Kolonien durch die Stempelakte 
(1765) und neue Zölle zur Unterhaltung des 
Heeres heranzuziehen, vor allem infolge der Hart- 
näckigkeit Georgs III. (1760/1820) zu deren 
Abfall (1776); im Frieden von Versailles 1783 
mußte England die Unabhängigkeit der Vereinig- 
ten Staaten anerkennen. 
Der ungeheure Reichtum, der aus den über- 
seeischen Besitzungen nach England strömte, übte 
auf die inneren politischen Verhältnisse keinen 
guten Einfluß. Im parlamentarischen Leben riß 
eine Bestechlichkeit ein, welche von den herrschenden 
Parteien auf das schamloseste ausgebeutet wurde. 
Die technischen Erfindungen in der Weberei und 
Spinnerei, den Hauptindustrien Englands, und 
die Verwertung mechanischer Kraft mittels der 
1785 erfundenen Dampfmaschine und der nord- 
englischen Kohlenlager schufen in England zuerst 
einen neuen Stand, den der Fabrikarbeiter. Zu- 
gleich machten sich die Anfänge einer dritten, radi- 
kalen Partei bemerkbar, die in dem immer schärfer 
hervortretenden Gegensatze zwischen Reichtum und 
Armut eine Berechtigung besaß. Der Ausbruch 
der französischen Revolution und der Krieg gegen 
die neue Republik hinderten zwar zunächst alle 
Reformbestrebungen, doch sah sich der jüngere 
Pitt (seit 17883) infolge der innern Gärung 
wiederholt zur Aufhebung der Habeaskorpusakte 
und zu Ausnahmegesetzen genötigt. In den Kriegen 
gegen Frankreich wurde Englands erschütterte Ko- 
lonial= und Seemacht wieder gehoben; die Nieder- 
lande büßten ihre politische Verbindung mit Frank- 
reich mit dem Verluste ihrer Kolonien bis auf den 
Ostindischen Archipel. Pitt führte auch den letzten 
Schlag gegen Irland, dessen geknechtetes Volk 
einen neuen Befreiungsversuch gewagt hatte. Das 
irische Parlament wurde beseitigt; am 1. Jan. 
1801 trat die Union zwischen Großbritannien 
und Irland in Kraft, wonach letzteres 28 Peers 
ins Oberhaus und 100 (nach der Testakte nur 
protestantische) Deputierte ins Unterhaus entsen- 
  
Großbritannien. 
  
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den sollte. Die Katholikenemanzipation, die Pitt 
dafür versprochen hatte, scheiterte am Widerstande 
des Königs. 
Im ersten Pariser Frieden erwarb Großbritan- 
nien außer Malta: Tobago, St Lucia, Mauritius 
und die Seychellen von Frankreich; Demerara, 
Essequibo, Berbice, das Kapland und Ceylon von 
den Niederlanden und Helgoland von Dänemark, 
im zweiten das Protektorat über die Jonischen 
Inseln (1863 aufgegeben). Das starre System 
des Stillstandes in der innern und äußern Politik, 
das vom Tory-Ministerium Liverpool--Castle- 
reagh (1811/22) festgehalten wurde, wich unter 
Georg IV. (1820/30) mit dem Eintritt Cannings 
ins Kabinett (1822/29) liberaleren Tendenzen. Er 
schwächte die Kontinentalmächte durch heimliche 
und offene Förderung aller freiheitlich-revolutio- 
nären Bestrebungen zugunsten der Machtentfal- 
tung Großbritanniens. So unterstützte er den Ab- 
fall der spanischen und portugiesischen Kolonien 
in Amerika, mischte sich in die Thronstreitigkeiten 
Portugals und Spaniens und erkannte das em- 
pörte Griechenland als kriegführende Macht an, 
während sich zugleich der Kolonialbesitz in Ost- 
indien, Südafrika und dem 1829 in seiner ganzen. 
Ausdehnung in englischen Besitz genommenen 
Australien unaufhörlich erweiterte. 
4. Die Zeit seit etwa 1830. Das schwere 
Daniederliegen des Handels und der Gewerbe 
und der wachsende Steuerdruck infolge der langen 
Kriegszeit erzeugten in England viel Unzufrieden- 
heit und öftere Unruhen, die von der Regierung 
mit Gewalt und reaktionären Maßregeln beant- 
wortet wurden. Seit der Revolution war auch in 
England der Geist der Kritik mächtig geworden 
und richtete sich vor allem gegen die Landaristo- 
kratie, die durch Auskaufen der verarmten Bauern 
fast den ganzen Grundbesitz an sich gebracht hatte, 
noch 1815 die Getreidezölle erhöhte, das öffent- 
liche Leben und die Selbstverwaltung beherrschte, 
und gegen das Großkapital, das die Arbeiter aus- 
nützte und die Hausindustrie durch die Maschinen 
außer Brot setzte. Seit Gewährung des Kaali- 
tionsrechts (1824) begannen sich die Arbeiter in 
Gewerkschaften (trade unions) wirksame Gegen- 
mittel zu schaffen. Owen, Bentham und Cobbett 
traten besonders als Anwälte neuer und radikaler 
Ideen hervor. In Irland, wo der harte Druck 
der protestantischen „Orangemen“ vom Geheim- 
bund der Whiteboys mit Gewalt bekämpft wurde, 
entfachte O'Connell die katholische Bewegung und 
forderte Rechtsgleichheit für die Katholiken, die 
endlich 1829 in der Katholikenemanzipationsbill 
unter dem Ministerium Wellington gewährt wurde. 
Der von O'Connell verlangte Widerruf (Repeal) 
der Union Irlands mit Großbritannien, der die 
Wiederherstellung des irischen Parlamentes und 
einer eigenen irischen Regierung bedeutete, wurde 
natürlich verweigert. Eine andere Forderung der 
Gerechtigkeit ging unter Wilhelm IV. (1830/37) 
in Erfüllung, die Reform des Parlamentes, das
	        
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