Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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in seiner bisherigen Zusammensetzung ein Hohn 
auf die Idee einer Volksvertretung war. Viele 
industrielle Großstädte hatten überhaupt keine Ver- 
tretung, eine Reihe kleiner Wahlflecken (rotten 
boroughs) hatten kaum Wähler und waren voll- 
ständig in den Händen der Aristokratie. Nach der 
Reformbill von 1832 verlor die Aristokratie die 
Verfügung über 143 Sitze, die den Grafschaften 
und Städten zugeteilt wurden. 
Mit dem Regierungsantritt der Königin Vik- 
toria (1837/1901) löste sich die Personalunion 
mit Hannover, weil hier das salische Erbrecht galt. 
Die Herrschaft der Whigs dauerte fort; Lord 
Palmerston, der Englands auswärtige Politik mit 
kurzen Unterbrechungen von 1830 bis 1865 lei- 
tete, begünstigte in Spanien und Portugal, in der 
Schweiz, Italien und Polen alle freiheitlichen und 
selbst radikalen Umtriebe, vermied aber jede Teil- 
nahme an kriegerischen Unternehmungen, die keine 
Förderung englischer Handelsinteressen versprachen. 
Heftige parlamentarische Kämpfe entstanden um 
die Getreidezölle. Die 1887 von Cobden und 
Bright in Manchester gegründete Anti-Corn-Law- 
League erstrebte ihre Aufhebung und den Frei- 
handel überhaupt, und schlechte Ernten, die in 
Irland zu massenhafter Auswanderung führten, 
kamen ihren Bestrebungen zu Hilfe. Eine radi- 
kalere Richtung, die Chartisten, forderte in ihrer 
„Volkscharte“ allgemeine direkte Wahlen ohne 
Zensus, jährliche Parlamente, Abschaffung des 
Armengesetzes, Verminderung der Abgaben usw. 
Die Ermäßigung (1842) und Aufhebung der Korn- 
zölle (1846), die Durchführung der Einkommen- 
steuer durch Peel und vor allem der mächtige Auf- 
schwung der Industrie entzogen jedoch für den 
Augenblick der Bewegung den Boden und halfen 
auch über die Unruhen des Jahres 1848 hinweg. 
Die äußere Politik Palmerstons, die ohne höhere 
Ziele nur auf Augenblickserfolge und die Ab- 
lenkung des Interesses von den inneren Angelegen- 
heiten berechnet war, brachte nicht immer Vorteil; 
so schützte er zwar die Pforte vor den Eroberungs- 
plänen Rußlands und Agyptens, wurde aber 
schließlich in den Krimkrieg verwickelt, in welchem 
Frankreich den Haupterfolg davontrug. — Glück- 
licher waren die Engländer in ihrer Kolonial= 
politik. Zwar mußten sie 1842 Afghanistan 
räumen; dafür gewannen sie aber 1826, 1843, 
1849 und 1853 neuen Besitz in Indien, wo nach 
Unterdrückung des furchtbaren Aufstandes der 
Sipoys 1858 die Ostindische Kompanie aufge- 
löst und das Land direkt unter die Herrschaft der 
Krone gestellt wurde. Von China erzwang man 
das Recht des Opiumhandels, die Abtretung der 
Insel Hongkong und die Offnung von fünf 
Hafenplätzen (1842). Ebenso vorteilhaft für den 
englischen Handel endete ein zweimaliger Krieg, 
den Palmerston 1857/58 und 1860 im Verein 
mit Frankreich gegen das Reich der Mitte führte; 
kurz darauf erfolgte (1864) ein günstiger Handels- 
vertrag mit Japan. 
Großbritannien. 
  
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Das stärkere Hervortreten der radikalen Ele- 
mente zwang 1867 das konservative Ministerium 
Derby, in dem Disraeli die radikaleren und sozia- 
len Forderungen des „Neutorismus“ vertrat, einer 
liberalen Parlamentsreform zuzustimmen, die in 
den Grasschaften den Zensus von 50 auf 15 Pfund 
herabsetzte, in den Städten jedem selbständigen 
Haushalter das Stimmrecht verlieh und in Wahl- 
flecken von weniger als 7000 Einwohnern die Ver- 
tretung auf eine Stimme beschränkte. Als auch 
ein Antrag Gladstones auf Aufhebung der eng- 
lischen Staatskirche in Ixrland die Zustimmung 
des Unterhauses erhielt, trat das Tory-Ministe- 
rium zurück, und Gladstone ging 1868 energisch 
an die Lösung der irischen Frage. Die Massen- 
auswanderung hatte in Irland die Landfrage in 
Fluß gebracht; geheime Gesellschaften (Fenier seit 
1861) erstrebten die gewaltsame Vertreibung der 
englischen Landlords und faßten die gänzliche 
Lostrennung Irlands von Großbritannien ins 
Auge. Gladstone setzte zunächst die Entstaatlichung 
der anglikanischen Kirche in Irland durch; die 
Kirchenbill von 1869 verdrängte die Staatskirche 
aus dem ausschließlichen Besitze des irischen Kir- 
chenvermögens. Die Landakte von 1870 sollte 
die armen Pächter gegen die Willkür der Guts- 
herren schützen und die Bildung eines irischen 
Bauernstandes ermöglichen. 
Nach außen befolgte Gladstone die nicht immer 
kluge Politik der Nichtintervention. Sie war 
teilweise geboten durch die militärische Schwäche 
Englands, die auf der Londoner Konferenz (im 
März 1871) zur Nachgiebigkeit gegen Rußland 
in der Pontusfrage zwang. Die Armee-Reform- 
bill Cardwells 1871 behielt das Werbesystem bei, 
doch wurde die Käuflichkeit der Offiziersstellen 
durch Verordnung beseitigt. - 
Das konservative Kabinett (1874/80), dessen 
Leiter Disraeli (nachmals Lord Beaconsfield) selbst 
die imperialistische Bewegung in England ent- 
fesselt hatte, zeigte in der auswärtigen Politik so- 
fort eine größere Rührigkeit. Es sicherte Englands 
Interessen in Agypten durch Ankauf der Sues- 
kanalaktien des Khedive, nahm die Ordnung der 
zerrütteten Finanzverhältnisse dieses Landes in die 
Hand und gewährte der Pforte im russisch-türki- 
schen Kriege (1877/78) und auf dem Berliner 
Kongresse in gemäßigter Weise Schutz, nachdem 
es durch die Besetzung Cyperns (1878) seine Stel- 
lung im Mittelmeere verstärkt hatte. 1877 nahm 
die Königin den Titel einer Kaiserin von Indien 
an. In einem Konflikt mit Afghanistan wurden 
die indisch-afghanischen Grenzpässe besetzt. Der 
ungünstige Verlauf der Operationen im Zulukrieg, 
ein Aufstand der Buren nach der rechtswidrigen 
Besetzung von Transvaal (1877), neue Konflikte 
mit Afghanistan und ein großes Defizit hatten 
1880 den Sieg der Liberalen und den Rücktritt 
Disraelis zur Folge. 
Gladstone (1880/85) gab Asghanistan und 
Transvaal auf, geriet aber durch die Haltung der
	        
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