Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Die innere Verwaltung ist in Großbritannien 
einfacher als in den übrigen Staaten Europas, 
weil nach dem Grundsatze der Dezentralisation 
eine große Anzahl der wichtigsten Lebensverhält- 
nisse der Selbstbestimmung der Gemeinden, Di- 
strikte und Grafschaften anheimgegeben ist. Das 
Vereinigte Königreich ist in 120 Grasschaften 
(shires oder counties) geteilt: England in 40, 
Wales in 12, Schottland in 33 und Irland in 
4 Provinzen (Leinster, Ulster, Munster und Con- 
naught) mit 32 Grafschaften. In England und 
Wales wurden 1888 und 1894 für die meisten 
praktischen Zwecke aus diesen alten Grasschaften 
für die Lokalverwaltung 62 neue, „administra- 
tive“ Grafschaften gebildet, von denen nur 14 sich 
mit den alten decken; dabei wurden 67 größere 
Städte ausgeschieden und erhielten größere Unab- 
hängigkeit von der Grafschaft, daher count) 
boroughs genannt; London ist Stadt und Graf- 
schaft zugleich (s. unten). Die Grasschaften sind, 
je nach dem Zweck, in verschiedener Weise ein- 
geteilt: für friedensrichterliche Tätigkeit in pett. 
sessional divisions, für die Wahl des Graf- 
schaftsrates in electoral divisions, für die Poli- 
zeigeschäfte in police districts, für die Armen- 
pflege und Sanitätszwecke in county districts 
(s. unten), ferner in Parlamentswahlkreise, Co- 
ronerbezirke und Gerichtssprengel. Der oberste 
Exekutivbeamte der Grasschaft und militärischer 
Vertreter der Krone ist der Lordleutnant, welcher 
von der Krone gewöhnlich aus den angesehensten 
adeligen Grundbesitzern auf Lebenszeit berufen 
wird; nur in Irland werden die Lordleutnants 
von dem Generalgouverneur als dem Repräsen- 
tanten der Krone ernannt. Während jedoch der 
Lordleutnant nur den Befehl über die Miliz führt, 
ist der ihm im Range nachstehende Sheriff das 
eigentliche Werkzeug der innern Verwaltung, der 
höchste Zivilbeamte. Alljährlich von der Krone 
auf Vorschlag des Lordkanzlers aus den wohl- 
habenden Einwohnern der Grafschaft ernannt, 
sorgt er für die Veröffentlichung der Verord- 
nungen, leitet die Parlamentswahlen, ernennt die 
Geschworenen, hält die Grasschaftsgerichte, voll- 
streckt die Urteile der obersten Gerichtshöse und 
nimmt überhaupt die Rechte der Krone wahr. — 
An der Spitze der gesamten irischen Verwaltung 
steht als Repräsentant des Königs der Lord- 
leutnant-General und Generalgouverneur („Vize- 
könig"), welchem ein Königlicher Geheimer Rat 
sowie ein Chefsekretär und Geheimsiegelbewahrer 
zur Seite stehen; Irland besitzt auch einen Lord- 
kanzler, welchem unter anderem der Vorsitz im 
obersten Gerichtshofe und die Ernennung der 
Friedensrichter zukommt. Man, Guernsey und 
Alderney, Jersey werden von Gouverneuren 
(Lieutenant-Governors) verwalltet. 
Wesentlich verschieden von den Einrichtungen 
anderer Staaten ist die Kommunalverfas- 
sung, deren Selfgovernment hauptsächlich auf 
der Verwaltung in den Grasschaften und Bezirken 
Staatslexikon. II. 3. Aufl. 
Großbritannien. 
  
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beruht, hinter welchen das Ortsgemeindewesen 
zurückgetreten ist. Diese Selbstverwaltung erstreckt 
sich auf den größten Teil der Arbeiten, die auf 
dem Kontinent der sog. Verwaltung des Innern 
zufallen: auf das Polizei-- und Armenwesen, die 
Erhaltung der öffentlichen Gesundheit, die lokalen 
Steuerangelegenheiten, den Brücken= und Straßen- 
bau, die Einrichtung von Elementar-und Industrie- 
schulen und die Teilung der Grasschaften in Par- 
lamentsbezirke usw.; sie wurde früher von Per- 
sonen geführt, welche aus den Grafschaftsinsassen, 
insbesondere den Grundbesiternn teils ernannt 
teils erwählt wurden. Die Lokalverwaltungsbill 
vom 11. Aug. 1888, die zunächst nur für Eng- 
land und Wales Geltung hatte und 1889 in ihren 
wesentlichen Bestimmungen auf Schottland, 1898 
auf Irland ausgedehnt wurde, hat Grafschafts- 
und Bezirksräte gebildet, um dem Einfluß der 
adeligen Großgrundbesitzer ein Ende zu machen; 
sie hat auch einen hierarchischen Aufbau der Be- 
hörden in der innern Verwaltung geschaffen, in- 
dem sie die Kirchspiele den Distrikten, diese dem 
Grasschaftsrat, die Grafschaften und Grafschafts- 
städte dem Ministerium für Lokalverwaltung (Lo- 
cal Government Boarc) unterordnete. 
Der Kern des heutigen englischen Local 
Government ist das Kirch spiel (parish), durch 
dessen Vereinigung die vielseitigsten Kommunal= 
verbände entstehen. Es gibt ländliche (rural) und 
städtische (urban) Kirchspiele. Das ländliche 
Kirchspiel ist als weltlicher Organismus (civil 
Parish) vom kirchlichen (ecclesiastical parish) 
seit 1894 vollkommen losgelöst, und beide decken 
sich auch im Umfange nicht. Organe des weltlichen 
Kirchspiels sind der Kirchspielrat (parish council), 
der von den Kirchspielwählern (parochial elec- 
tors) gewählt wird, die Kirchspielversammlung 
(parish meeting) und die Armenaufseher (over- 
seers). Zu den Funktionen des Kirchspielrats 
gehören die Verwaltung des Kirchspielvermögens, 
Überwachung der milden Stiftungen weltlichen 
Charakters, Ausschreibung von Steuern als Zu- 
schläge zur Grafschaftsarmensteuer, Bestellung der 
Armenaufseher usw. In Kirchspielen mit weniger 
als 300 Seelen fallen diese Funktionen dem 
parish meeting zu. In den städtischen Kirch- 
spielen besteht die Kirchspielversammlung (vestry) 
in der Regel aus allen Kirchspielangehörigen ohne 
Unterschied des Geschlechtes, die zur Armensteuer 
eingeschätzt sind; Vorsitzender ist gewöhnlich der 
Priester des Kirchspiels. Die Anstellung der 
Armenausfseher erfolgt hier durch den Friedens- 
richter oder deren kleine Sitzungen (petty ses- 
sions). Die wichtigsten der durch Vereinigung 
von Kirchspielen gebildeten Zweckverbände sind die 
Armenpflegeunionen und die Unionen für Ver- 
waltungsaufgaben des Public Health, die seit 
1894 das wichtigste Bindeglied zwischen Kirch- 
spiel und Grasschaft sind und daher count) 
districts genannt werden. Organe der Armen- 
pflege unionen sind der Armenpflegerat (board 
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