865
Die innere Verwaltung ist in Großbritannien
einfacher als in den übrigen Staaten Europas,
weil nach dem Grundsatze der Dezentralisation
eine große Anzahl der wichtigsten Lebensverhält-
nisse der Selbstbestimmung der Gemeinden, Di-
strikte und Grafschaften anheimgegeben ist. Das
Vereinigte Königreich ist in 120 Grasschaften
(shires oder counties) geteilt: England in 40,
Wales in 12, Schottland in 33 und Irland in
4 Provinzen (Leinster, Ulster, Munster und Con-
naught) mit 32 Grafschaften. In England und
Wales wurden 1888 und 1894 für die meisten
praktischen Zwecke aus diesen alten Grasschaften
für die Lokalverwaltung 62 neue, „administra-
tive“ Grafschaften gebildet, von denen nur 14 sich
mit den alten decken; dabei wurden 67 größere
Städte ausgeschieden und erhielten größere Unab-
hängigkeit von der Grafschaft, daher count)
boroughs genannt; London ist Stadt und Graf-
schaft zugleich (s. unten). Die Grasschaften sind,
je nach dem Zweck, in verschiedener Weise ein-
geteilt: für friedensrichterliche Tätigkeit in pett.
sessional divisions, für die Wahl des Graf-
schaftsrates in electoral divisions, für die Poli-
zeigeschäfte in police districts, für die Armen-
pflege und Sanitätszwecke in county districts
(s. unten), ferner in Parlamentswahlkreise, Co-
ronerbezirke und Gerichtssprengel. Der oberste
Exekutivbeamte der Grasschaft und militärischer
Vertreter der Krone ist der Lordleutnant, welcher
von der Krone gewöhnlich aus den angesehensten
adeligen Grundbesitzern auf Lebenszeit berufen
wird; nur in Irland werden die Lordleutnants
von dem Generalgouverneur als dem Repräsen-
tanten der Krone ernannt. Während jedoch der
Lordleutnant nur den Befehl über die Miliz führt,
ist der ihm im Range nachstehende Sheriff das
eigentliche Werkzeug der innern Verwaltung, der
höchste Zivilbeamte. Alljährlich von der Krone
auf Vorschlag des Lordkanzlers aus den wohl-
habenden Einwohnern der Grafschaft ernannt,
sorgt er für die Veröffentlichung der Verord-
nungen, leitet die Parlamentswahlen, ernennt die
Geschworenen, hält die Grasschaftsgerichte, voll-
streckt die Urteile der obersten Gerichtshöse und
nimmt überhaupt die Rechte der Krone wahr. —
An der Spitze der gesamten irischen Verwaltung
steht als Repräsentant des Königs der Lord-
leutnant-General und Generalgouverneur („Vize-
könig"), welchem ein Königlicher Geheimer Rat
sowie ein Chefsekretär und Geheimsiegelbewahrer
zur Seite stehen; Irland besitzt auch einen Lord-
kanzler, welchem unter anderem der Vorsitz im
obersten Gerichtshofe und die Ernennung der
Friedensrichter zukommt. Man, Guernsey und
Alderney, Jersey werden von Gouverneuren
(Lieutenant-Governors) verwalltet.
Wesentlich verschieden von den Einrichtungen
anderer Staaten ist die Kommunalverfas-
sung, deren Selfgovernment hauptsächlich auf
der Verwaltung in den Grasschaften und Bezirken
Staatslexikon. II. 3. Aufl.
Großbritannien.
866
beruht, hinter welchen das Ortsgemeindewesen
zurückgetreten ist. Diese Selbstverwaltung erstreckt
sich auf den größten Teil der Arbeiten, die auf
dem Kontinent der sog. Verwaltung des Innern
zufallen: auf das Polizei-- und Armenwesen, die
Erhaltung der öffentlichen Gesundheit, die lokalen
Steuerangelegenheiten, den Brücken= und Straßen-
bau, die Einrichtung von Elementar-und Industrie-
schulen und die Teilung der Grasschaften in Par-
lamentsbezirke usw.; sie wurde früher von Per-
sonen geführt, welche aus den Grafschaftsinsassen,
insbesondere den Grundbesiternn teils ernannt
teils erwählt wurden. Die Lokalverwaltungsbill
vom 11. Aug. 1888, die zunächst nur für Eng-
land und Wales Geltung hatte und 1889 in ihren
wesentlichen Bestimmungen auf Schottland, 1898
auf Irland ausgedehnt wurde, hat Grafschafts-
und Bezirksräte gebildet, um dem Einfluß der
adeligen Großgrundbesitzer ein Ende zu machen;
sie hat auch einen hierarchischen Aufbau der Be-
hörden in der innern Verwaltung geschaffen, in-
dem sie die Kirchspiele den Distrikten, diese dem
Grasschaftsrat, die Grafschaften und Grafschafts-
städte dem Ministerium für Lokalverwaltung (Lo-
cal Government Boarc) unterordnete.
Der Kern des heutigen englischen Local
Government ist das Kirch spiel (parish), durch
dessen Vereinigung die vielseitigsten Kommunal=
verbände entstehen. Es gibt ländliche (rural) und
städtische (urban) Kirchspiele. Das ländliche
Kirchspiel ist als weltlicher Organismus (civil
Parish) vom kirchlichen (ecclesiastical parish)
seit 1894 vollkommen losgelöst, und beide decken
sich auch im Umfange nicht. Organe des weltlichen
Kirchspiels sind der Kirchspielrat (parish council),
der von den Kirchspielwählern (parochial elec-
tors) gewählt wird, die Kirchspielversammlung
(parish meeting) und die Armenaufseher (over-
seers). Zu den Funktionen des Kirchspielrats
gehören die Verwaltung des Kirchspielvermögens,
Überwachung der milden Stiftungen weltlichen
Charakters, Ausschreibung von Steuern als Zu-
schläge zur Grafschaftsarmensteuer, Bestellung der
Armenaufseher usw. In Kirchspielen mit weniger
als 300 Seelen fallen diese Funktionen dem
parish meeting zu. In den städtischen Kirch-
spielen besteht die Kirchspielversammlung (vestry)
in der Regel aus allen Kirchspielangehörigen ohne
Unterschied des Geschlechtes, die zur Armensteuer
eingeschätzt sind; Vorsitzender ist gewöhnlich der
Priester des Kirchspiels. Die Anstellung der
Armenausfseher erfolgt hier durch den Friedens-
richter oder deren kleine Sitzungen (petty ses-
sions). Die wichtigsten der durch Vereinigung
von Kirchspielen gebildeten Zweckverbände sind die
Armenpflegeunionen und die Unionen für Ver-
waltungsaufgaben des Public Health, die seit
1894 das wichtigste Bindeglied zwischen Kirch-
spiel und Grasschaft sind und daher count)
districts genannt werden. Organe der Armen-
pflege unionen sind der Armenpflegerat (board
28