871
Chancery, hatte. Durch die Judicature Act
1873 trat eine Fusion mit den übrigen Gerichten
ein, und die COommon Law-Gerichte haben jetzt
die Befugnis, Rechtswohltaten zu gewähren, die
früher nur an den Equity-Gerichten erteilt wer-
den konnten. Rechtsquelle sind ferner auch die
früheren Entscheidungen der höheren Gerichte in
ähnlichen Fällen; so ist das Haus der Lords und
der Court of appeal an seine früheren Entschei-
dungen gebunden, die niederen Tribunale an die
der Obergerichte. In kirchlichen und Admirali-
tätsgerichten kommt außerdem das kanonische und
römische Zivilrecht zur Anwendung. Die Rechts-
pflege ist weitschweifig, schwerfällig und kostspielig;
es fehlt an einem einheitlichen Justizministerium
und einem einheitlichen Appellhof für das gesamte
britische Reich. Mangelhaft ist auch die Vorbil-
dung der praktischen Juristen in den Juristen-
innungen (Inns of court). Die obersten Revi-
sionsinstanzen des Königreiches sind das Haus der
Lords („Gerichtskammer der Lords“, in der Praxis
diejenigen Peers, die ein höheres Richteramt beklei-
det haben oder bekleiden) und das Gerichtskomitee
des Geheimen Rates. Außerdem bestehen für jedes
der drei Reiche oberste Landesgerichtshöfe, deren
Mitglieder nur auf ein von beiden Häusern ge-
meinsam an den König gerichtetes Gesuch abgesetzt
werden können. Der oberste Gerichtshof für Eng-
land und Wales (Supreme court of judicature)
in London setzt sich zusammen aus dem Appel-
lationsgerichtshof (Court of appeal; für Zivil-
und seit 1908 auch für Strafsachen) und dem
Hohen Justizhof (High court of justice) in
drei Abteilungen: das Kanzleigericht (Chancery).
division) für Erbschaftsteilungen, Vormund-
schaftssachen u. a.; die Abteilung der Königlichen
Bank (Kings bench division) für Straf= und
Zivilsachen, mit dem das frühere Zivilgericht
(Common pleas division) und das Schatz-
kammergericht (Exchequer division), besonders
für Zivilsachen, vereinigt wurden, ferner die Pro-
bate, Divorce and Admiralty division für
Testaments-, Ehescheidungs= und Marinesachen.
Der Lordkanzler ist der Präsident des Appellations-
gerichtshofes und der Chancery division. Höhere
Tribunale in England und Wales sind außerdem
noch: der Hohe Bankrottgerichtshof, Archescourt
(Gerichtshof für anglikanisch-kirchliche Angelegen-
heiten), Duchy court of Lancaster (Gerichts-
hof für das Herzogtum Lancaster), das Ständige
Komitee der County court judges, der Zentral-
kriminalgerichtshof für London und in besondern
Fällen auch für ganz England und Wales.
Zur Aburteilung von schweren Kriminal= und
Zivilsachen machen Richter des Hohen Gerichts-
hofes zwei= bis dreimal jährlich Rundreisen (cir-
cuits) in 59 Städten von England und Wales,
um daselbst Gerichtssitzungen („Assisengerichte")
abzuhalten. In der Provinz bestehen für Zivil-
prozesse die County courts (Grafschaftsgerichte;
in England und Wales 57, in Irland 22), deren
Großbritannien.
872
Kompetenz immer mehr zunimmt, und für Krimi-
nalprozesse derselben Gattung die Quarter und
Petty sessions der Friedensrichter (s. oben) und
die Polizeigerichte. Schottland besitzt in Edin-
burgh einen Hohen Gerichtshof (High court of
justiciary) für Kriminal= und einen Court of
session (Obergericht) für Zivilsachen; außerdem
in jeder Grafschaft ein Kriminal= und Zivilgericht
der Sheriffs, die juristische Bildung haben müssen
(Sherifk court). Die Gerichtsverfassung Irlands
ist ganz der von England nachgebildet, jedoch ent-
scheiden die County courts hier in Kriminal= und
Zivilsachen. Eine Staatsanwaltschaft in unserem
Sinn mit dem Anklagemonopol kennt das eng-
lische Recht nicht; es gilt das System der Privat-
klage. Nur in besondern Fällen tritt der unter
dem Attorney General stehende Solicitor of
the treasur)y in Tätigkeit, oder die Krone erhebt,
wenn ein zweifellos öffentliches Interesse vorliegt,
durch einen der beiden Kronanwälte Klage.
IV. Religion und Anuterricht. Großbri-
tannien besitzt zwei Staatskirchen: die bi-
schöflich-protestantische in England (Established
church) und die presbyterianische in Schottland
(the church of Scotland); Irland ist seit der
Entstaatlichung der bischöflichen Kirche von dem
offiziellen Kirchentum befreit. Obwohl nach der
Verfassung alle Bürger ohne Rücksicht auf ihr
Glaubensbekenntnis politisch gleichberechtigt sind
(einige der höchsten Staatsämter sind den Katho-
liken und Nicht-Anglikanern noch verschlossen;
ebenso sind rechtlich, wenn auch nicht faktisch, alle
katholischen Männerorden untersagt und die Ver-
gabungen an sie ungesetzlich), befinden sich die sog.
Staatskirchen doch allein im Besitze der Einkünfte
der reichen Kirchengüter (1905 an 110 Mill. M),
die nach der Forderung der Dissenters National-
eigentum sein sollten, wie dies in Irland bereits
der Fall ist.
Die katholische Kirche erhielt sich trotz
aller Verfolgung sogar in England, besonders in
Vork und Lancaster. Gregor XV. machte England
zu einem Apostolischen Vikariat, Innozenz XI.
bildete 30. Jan. 1688 daraus vier Vikariate;
Gregor XVI. verdoppelte am 3. Juli 1840 ihre
Zahl auf acht. Am 29. Sept. 1850 stellte
Pius IX. durch die Bulle Universalis Eccle-
siae die katholische Hierarchie in England und
Wales mit 12 Bischöfen unter dem Erzbischof
von Westminster wieder her. Gegenwärtig zählt
die Kirchenprovinz Westminster 15 Suffragan-
bischöfe, 1907 an 1 6880000 Katholiken, 3443
Priestern (davon 1293 Ordensleute), 2071 Kirchen
und Kapellen. Die 1655 katholischen Elementar-
schulen zählten 309 536 Schüler. Daneben be-
standen noch 52 Knabenkonvikte, 208 Mädchen-
pensionate, 85 Waisenhäuser, 17 Hospitäler und
107 andere konfessionelle Institute. — In Schott-
land bestand seit 1633 eine Apostolische Präfektur,
seit 1694 ein Apostolisches Vikariat, dem Bene-
dikt XII. 1727 ein zweites und Leo XII. 1827