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In der Geschichte des deutschen Genossenschafts-
wesens können wir eine Vorperiode unterscheiden,
welche bis in den Anfang des 19. Jahrh. zurück-
geht. Auf dem Hunsrück und am Niederrhein
finden wir schon um diese Zeit Mühlen= und
Bäckereigenossenschaften. Literarisch behandelte
das Genossenschaftswesen frühzeitig sehr eingehend
V. A. Huber. Die hauptsächlichste Anregung zur
Genossenschaftsbildung ging aber in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrh. von Schulze-Delitzsch für
die städtische und von Raiffeisen für die ländliche
Bevölkerung aus. Über beider Tätigkeit geben
die bezüglichen Artikel näheren Aufschluß. Schulze-
Delitzsch stellte die Genossenschaften auf das Prin-
zip der Selbsthilfe, während Raiffeisen das sozial-
charitative und das volkspädagogische Prinzip in
den Vordergrund stellte. Bis zum Ende des
19. Jahrh. hatte das Genossenschaftswesen in
Deutschland eine solche Entwicklung genommen,
daß am 1. Juli 1899 gezählt wurden 16 500
Genossenschaften, von denen 77% = 12 736
landwirtschaftliche bzw. ländliche waren, und zwar
9208 Spar= und Darlehenskassenvereine, 1040
Bezugs-, 1764 Molkerei-, 724 sonstige Ge-
nossenschaften. Am 1. Jan. 1908 bestanden
in Deutschland 26 851 Genossenschaften mit
4105594 Mitgliedern.
Die Genossenschaften haben unter sich mehrere
Verbände gebildet, und man kann hiernach die
sämtlichen deutschen Genossenschaften zur Zeit
wieder in folgende Gruppen teilen: a) „Allge-
meiner Verband der auf Selbsthilfe
beruhenden deutschen Erwerbs-- und
Wirtschaftsgenossenschaften“, hervor-
gegangen aus dem 1859 gegründeten „Zentral-
bureau“ für die an Schulze-Delitzschs Grundsätze
sich anschließenden Genossenschaften; b) Revisions-
verbände des „Generalverbandes länd-
licher Genossenschaften für Deutsch-
land“, welcher sich aus der 1877 von Raiffeisen
gegründeten „Anwaltschaft ländlicher Genossen-
schaften“ entwickelte und trotz seiner formellen Ver-
einigung mit dem „Reichsverband der deutschen
landwirtschaftlichen Genossenschaften“ noch als eine
eigene Gruppe betrachtet werden muß; c) Revi-
sionsverbände des „Reichsverbandes der
deutschen landwirtschaftlichen Ge-
nossenschaften“, welcher 1890 aus der 1883
gegründeten „Vereinigung der deutschen landwirt-
schaftlichen Genossenschaften“ entstand; d) Re-
visionsverbände des „Zentralverbandes
deutscher Konsumvereine“; e) Re-
visionsverbände des „Hauptverbandes
deutscher gewerblicher Genossenschaften“;
eine Reihe von kleineren Verbänden, welche sich
in ihrer Wirksamkeit auf einzelne Landesteile be-
schränken und keiner allgemeinen Vereinigung an-
geschlossen sind. Die sämtlichen Verbände haben
den Zweck der Pflege und Revision der ange-
schlossenen Genossenschaften. Seit dem Jahr 1889
ist nämlich die Revision auch gesetzlich obliga-
Erwerbs= und Virtschaftsgenossenschaften.
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torisch, indem jede Genossenschaft alle zwei Jahre
revidiert werden muß, und zwar hat die Revision
zu erfolgen entweder durch einen von der zustän-
digen Behörde dazu konzessionierten Verband,
falls die Genossenschaft einem solchen sich ange-
schlossen hat, oder durch einen von dem zustän-
digen Gericht dazu bestimmten Revisor, falls die
Genossenschaft ohne Verbandsanschluß besteht.
Außer den Verbänden kommen die zentralen Geld-
ausgleichstellen und die zentralen An= und Ver-
kaufsgenossenschaften in Betracht, meist in der Form
von Genossenschaften mit beschränkter Haftung,
die Landwirtschaftliche Zentraldarlehenskasse für
Deutschland (Neuwied) und die Landwirtschaftliche
Reichsgenossenschaftsbank (Darmstadt) auf Aktien.
Als Rückhalt für die Verbandszentralkassen wurde
in Preußen unter dem 1. Okt. 1895 mit staat-
licher Hilfe die Preußische Zentralgenos-
senschaftskasse ins Leben gerufen, welche ein
selbständiges Institut mit der Eigenschaft einer
juristischen Person unter staatlicher Verwaltung
und Aufsicht des Finanzministeriums ist und ge-
setzmäßig nicht mit Einzelgenossenschaften, sondern
nur mit Verbandskassen in Geschäftsverbindung
tritt.
Bezüglich der Entwicklung des Genossenschafts-
wesens außerhalb Deutschlands ist folgen-
des beachtenswert. In den letzten Jahrzehnten
haben sich Kreditgenossenschaften nach Schulzeschem
wie auch Raiffeisenschem Muster zahlreich in Oster-
reich, Böhmen usw. verbreitet. — Im englischen
Genossenschaftswesen pflegt man eine erste, kapita-
listische Periode bis zum Jahr 1831 und eine
zweite, sozialistische, wesentlich unter dem Einfluß
Owens stehende, bis 1844 reichende sowie die dritte,
von den Christlich-Sozialen, besonders Maurice
und Ludlow, inaugurierte Periode zu unterschei-
den. Bemerkenswert und lehrreich ist in der Ge-
schichte des englischen Genossenschaftswesens be-
sonders die Geschichte der „redlichen Pioniere von
Rochdale“, eines Konsumvereins armer Flanell-
weber, welcher die Verteilung des Reingewinns
nicht nach den Geschäftsanteilen, sondern nach den
Einkäufen durch Rückvergütung vornimmt. Die
Spitze der englischen Konsumvereine bilden
die Großeinkaufsgenossenschaften. —
Während in England die Konsumvereine die be-
deutendste Ausbreitung fanden, ist dies in Frank-
reich besonders bei den Produktivgenossenschaften
und den landwirtschaftlichen Syndikaten der Fall.
Die ersten Genossenschaften im modernen Sinn
scheint in Frankreich Buchez Mitte der 1830er
Jahre gegründet zu haben. Bei ihm finden wir
auch 1834 wie bei dem Schweizer Becker 1866
den Gedanken: bestimmte Gewinnanteile zu
einem „unteilbaren“ Kapital zurückzu-
legen, das im Interesse der Gesamtheit der Ge-
nossenschaften verwendet werden soll, in ähn-
licher Weise wie später bei Raiffeisen. Neben den
Produktivgenossenschaften in industriellen Kreisen
haben sich die Kreditvereine besonders in der land-