Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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reifen, unmündigen Menschen zuin Zweck seiner 
leiblichen und geistigen Entwicklung ausüben, 
nennen wir Erziehung. Von dem Augenblick an, 
wo der Mensch ins Leben eintritt, muß diese ihm 
die Hand reichen und ihn leiten und führen bis zu 
dem Punkt, wo er jene Reife erlangt hat, die ihn 
befähigt, ohne die Stütze der Erziehung sich im 
Leben zu bewegen und die Stellung einzunehmen, 
die ihm die göttliche Vorsehung in der Gesellschaft 
anweist. Die Erziehung ist entscheidend für das 
Leben des Menschen und dadurch auch ausschlag- 
gebend für die ganze Menschheit. Deshalb nennt 
schon Plato die Erziehung etwas Göttliches, und 
Leibnizens Wort besteht zu Recht: Si Ton réfor- 
mait I’éducation, I’on réformerait le genre 
humain. Wird die Erziehung vernachlässigt, so 
verwildert der Mensch; wird sie verkehrt gehand- 
habt, dann wächst er in der Verkehrtheit auf und 
lebt sich in eine verkehrte Richtung hinein, die auch 
seiner dereinstigen Wirksamkeit im Berufsleben ihr 
Gepräge geben wird und diese statt zum Segen 
vielmehr zum Unsegen für ihn und andere machen 
kann. — Die Erziehung muß eine planmäßige 
sein, sonst ist sie wirkungslos. Planmäßig kann 
sie aber nur unter der Bedingung sein, daß sie 
einen bestimmten Zweck verfolgt, der durch sie er- 
reicht werden soll, und daß sie von bestimmten 
Grundsätzen sich leiten läßt, die jenem Zweck ent- 
sprechen und deren Durchführung in der Erziehung 
die Erreichung dieses Zweckes zur Wirkung hat. 
Handelt es sich also darum, das Wesen der Er- 
ziehung zu bestimmen, dann muß man vor allem 
über den Erziehungs zweck im klaren sein. 
2. Moderne und christliche Auffas- 
sung der Erziehung. Die moderne 
Pädagogik betrachtet als das höchste Ziel der Er- 
ziehung die Heranbildung des Zöglings zum voll- 
kommenen Menschen. „Das Kind“, so lehrt sie, 
„soll zur möglichsten menschlichen Vollkommenheit 
herangezogen werden. Die Erziehung soll alle 
Kräfte und Fähigkeiten, die in der menschlichen 
Natur liegen, zur harmonischen Entwicklung brin- 
gen, und zwar bis zu dem Maße, daß der Zög- 
ling ein vollkommenes menschliches Individuum 
wird.“ In diesem Sinn ist es zu nehmen, wenn 
die moderne Pädagogik als Ziel und Ideal der 
Erziehung die „Humanität"“ proklamiert und sich 
selbst als „humanitäre“ Erziehungslehre an- 
kündigt. 
Daß die Erziehung den Zweck verfolgen müsse, 
alle Kräfte und Fähigkeiten, die in der menschlichen 
Natur beschlossen sind, zur harmonischen Entwick- 
lung zu bringen, ist etwas Selbstverständliches. 
Die moderne Erziehungslehre irrt nur darin, daß 
sie die Aufgabe der Erziehung nicht selten darauf 
allein beschränkt und von dem übernatürlichen 
Leben, in welches das Kind nach christlicher Auf- 
fassung durch die Taufe aufgenommen ist, nichts 
wissen will. Die Erziehung darf sich aber in Wahr- 
heit nicht damit begnügen, das Natürliche im 
Kinde und dieses nur als solches zu entwickeln und 
Erziehung. 
  
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auszubilden, sondern nach christlicher Anschauung 
auch das Übernatürliche und mit und in diesem 
zugleich das Natürliche im Kinde zur Entfaltung 
und Ausgestaltung zu führen. Denn nur unter 
dieser Bedingung wird der Zögling ein „voll- 
kommener Mensch“, wie er der christlichen Idee 
entspricht. 
Indem also die moderne Pädagogik von der 
übernatürlichen Ordnung des Christentums vielfach 
ganz absieht, steht sie auf naturalistischem, unchrist- 
lichem Boden. Es kommt aber hierzu noch etwas 
anderes. Wenn man sagt, der Zögling müsse zum 
„vollkommenen Menschen“ herangebildet werden, 
so hat man damit nur den nächsten und unmittel- 
baren Zweck der Erziehung angegeben, da man 
ja immer noch fragen kann: Warum muß denn 
der Zögling zum „vollkommenen Menschen“ er- 
zogen werden? Solange diese Frage nicht beant- 
wortet ist, weiß man von dem höchsten Zwecke der 
Erziehung eigentlich noch gar nichts: der befindet 
sich noch immer in der Schwebe. 
Die Erziehung findet ihren letzten und höchsten 
Zweck im Leben; denn für das Leben soll das 
Kind erzogen werden. Und hier ist es, wo die 
moderne Pädagogik wiederum mit der christlichen 
Anschauung in Konflikt kommt. Was man nämlich 
auch immer sagen möge: die moderne Pädagogik 
legt in Bezug auf die Erziehung das Hauptgewicht 
auf das gegenwärtige, irdische Leben und läßt das 
jenseitige, zu dem der Mensch bestimmt ist, gar zu 
sehr in den Hintergrund treten. Der Zögling soll 
für das gegenwärtige Leben tüchtig erzogen wer- 
den: dieser Gesichtspunkt steht überall im Vorder- 
grund der Theorie und Praxis der modernen Er- 
ziehungslehre. 
Es ist jedoch hierbei eine doppelte Richtung in 
der modernen Pädagogik zu unterscheiden. Die 
einen schieben das jenseitige Leben bzw. die Hin- 
ordnung der Erziehung zu einem solchen ganz aus 
der Erziehungslehre hinaus. Sie wollen, daß sich 
diese hiermit gar nicht befasse; sie wollen eine Er- 
ziehung ohne Gott, ohne Ewigkeit, ohne Religion. 
Andere dagegen gehen nicht so weit. Sie sind der 
ansicht, daß der Mensch nur unter der Bedingung 
„vollkommener Mensch“ sein könne, wenn er auch 
„religiös-sittlich“ gebildet sei. Darum lassen sie 
die Religion mit ihrer Hinweisung auf ein jensei- 
tiges Leben in der Erziehung noch stehen und 
sprechen wohl auch von einer „Entwicklung der 
religiösen Anlage“ im Zögling als einer Aufgabe 
der Erziehung. Aber sie pflegen dabei eine doppelte 
Reserve zu machen, nämlich: a) Fürs ersie soll 
jene religiöse Anschauung, die den Geist des Zög- 
lings in Beziehung setzt zu einem jenseitigen Leben, 
nicht die positiv-christliche sein. Die Erziehung, 
wenigstens die offizielle Erziehung, hat sich um die 
positiven Dogmen des Christentums, um das, was 
das positive Christentum über die jenseitige Be- 
stimmung des Menschen sowie über die Mittel zu 
deren Erreichung lehrt, schlechterdings nicht zu 
kümmern. Die Familienerziehung mag, wenn sie
	        
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