Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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delt, aber meist bestehen geblieben. Durch solche 
Gemeindeländereien bzw. durch die stückweise Ver- 
pachtung werden die Besitzungen der Bauern zu 
etwas größeren Betriebseinheiten erhoben. 
Daß auch die Industrie einen großen Einfluß 
auf die Besitzverteilung ausübt, ist klar. In 
Westfalen und im niederrheinischen Industrie- 
gebiet wurde die Bildung kleiner Güter durch die 
Ausbreitung der Haus-, Hütten- und Bergwerks- 
industrie hervorgerufen. Die Lage der Besitzer 
solcher Taglöhnergüter ist häufig eine bessere wie 
die der Besitzer kleinster selbständiger Güter, be- 
dingt durch reichliche und gutgelohnte Arbeits- 
gelegenheit und die Selbsterzeugung von Lebens- 
mitteln. Fällt die gewerbliche oder landwirt- 
schaftliche Arbeitsgelegenheit fort, oder wird die 
Arbeitskonkurrenz infolge zu vieler Ansiedler zu 
groß, so geraten die Inhaber solcher Taglöhner= 
güter in eine zu große Abhängigkeit und in eine 
Notlage. Immerhin ist in Industriegebieten Güter- 
zerkleinerung unschädlicher wie in ländlichen Be- 
zirken. Die Notwendigkeit einer Mindestgröße 
wird dadurch indessen nicht hinfällig; denn in In- 
dustriebezirken ist dann eben Land= und Garten- 
bau Nebenverdienst geworden. 
Während in den Gebieten mit vorwiegend 
zersplittertem Grundbesitz die einzelnen Liegen- 
schaften selbständige Vermögens= und Verkehrs- 
gegenstände bilden, ihre Zugehörigkeit zu dem 
einen oder andern landwirtschaftlichen Betrieb 
häufig wechseln, der Grundbesitz hier also äußerst 
beweglich ist, gelten in den Bezirken mit ge- 
schlossenem Grundbesitz die Güter als wirtschaft- 
liche Einheiten, deren altüberkommener und in sich 
wohl abgewogener Bestand an Ackerland, Wiesen, 
Weiden, Holzungen usw. man mit großer Sorg- 
falt zu erhalten sucht und von einer Generation 
auf die andere in wenig veränderter Form über- 
trägt. Da sich die Geschlossenheit des Grund- 
besitzes und die Einzelerbfolge sowohl bei den ehe- 
mals grundherrlich freien als auch bei den ehe- 
mals grundherrlich abhängigen Gütern findet, so 
ist es wahrscheinlich, daß die Ursache der ver- 
schiedenen Besitzverteilung in den gegebenen Wirt- 
schaftsbedingungen zu suchen ist. Schon seit dem 
12. Jahrh. führte die reiche Entwicklung der Han- 
delsplätze und des städtischen Lebens des Westens 
und Südens von Deutschland, die dort herrschende 
größere Fruchtbarkeit der Täler, die dichtere Be- 
völkerung, der gartenmäßige Betrieb zur Auf- 
lösung der alten Hufenverfassung, die Realteilung 
griff Platz. Die Teilungssitte und Mobilisierung 
des Grundbesitzes, nicht durch die Grundherren 
gehindert, hervorgerufen durch wirtschaftliche Be- 
dingungen, hatte die Verflüchtigung der grund- 
herrlichen Rechte und damit eine größere bäuer- 
liche Unabhängigkeit im Gefolge. 
Im größten Teile Deutschlands, in den Ge- 
birgen und auf den Hochebenen, im norddeutschen 
Tieflande behielt der Grundbesitz den Charakter 
von geschlossenen Höfen, weil die dort herrschenden 
Staatslexikon. II. 3. Aufl. 
  
Grundbesitz. 
  
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Wirtschaftsbedingungen dies forderten. Rauhes 
Klima, ungünstige Bodenverhältnisse ließen gärt- 
nerische Kulturen nicht zu. Größere Flächen waren 
erforderlich, um verhältnismäßig wenigen Men- 
schen Lebensunterhalt zu bieten. Eine Zerstück- 
lung des Grundbesitzes würde hier den Volkswohl- 
stand rasch vernichtet haben, deshalb forderte das 
grundherrliche, staatliche und nicht zum wenigsten 
das bäuerliche Interesse die Erhaltung größerer 
Betriebe. 
Wenn man die Regierungsbezirke Kassel und 
Düsseldorf zum Großbauerngebiet, Franken und 
Thüringen ganz zum Kleinbauerngebiet rechnet, so 
umfaßt das Kleinbauerngebiet nur 20 % der Be- 
triebsfläche des Deutschen Reiches, rund 30 % der 
Bevölkerung und 35 % aller 
Betriebe. Dabei ist der Durch- 
Güter ½ und ½ so groß 
in den andern Gebieten. In 3/10 des 
Deutschen Reiches mit 7/16 der landwirtschaftlichen 
Bevölkerung herrschen die geschlossenen größeren 
Güter r ceeliche gtwiatr 
VII. Rechtliche Entwichlung der Pesitz- 
verhälknisse. Durch die suttang der, Beg 
Beginn des 19. Jahrh., die sog. „Bauernbe- 
freiung“, begann für den Grundbesitz eine neue 
Rechtsordnung. Vor dieser „Bauernbefreiung“ 
war der Grundbesitz staatlich, ständisch und fa- 
milienrechtlich gebunden. Die staatliche Ge- 
bundenheit äußerte sich vornehmlich darin, daß 
man im Interesse der steuerlichen Leistungsfähig- 
keit die Veräußerung und Teilung der belegten 
Güter von der obrigkeitlichen Genehmigung ab- 
hängig machte. Dazu traten noch Schutzmaßregeln 
gegen UÜberschuldung, Zersplitterung usw. Die 
ständische Gebundenheit wollte die Güter in 
kriegerischer und finanzieller Beziehung leistungs- 
fähig erhalten. Man schuf zu dem Zweck das 
„Lehns= und Leiherecht“. Die Teilbarkeit und 
Verschuldbarkeit der abhängigen Güter wurde be- 
schränkt. Ein älteres Bauernrecht schuf die Güter- 
gemeinschaft der Eheleute, die Verpflichtung des 
Anerben zur Erziehung der minderjährigen Ge- 
schwister und zur Versorgung der gebrechlichen und 
kranken wie der alten Eltern. Die familien- 
rechtliche Gebundenheit ergab sich aus dem sog. 
Retraktrecht, d. h. dem Recht des nächsten Erben, 
das ohne seine Einwilligung veräußerte Grundstück 
gegen Zahlung des Kaufpreises zurückzufordern. 
In Preußen bedeutete die „Bauernbefreiung“ 
einen radikalen Bruch mit den bisherigen Verhält- 
nissen. Alle Beschränkungen der Teilbarkeit, der 
Verschuldbarkeit, der Veräußerung und der Ver- 
erbung wurden aufgehoben. Alle Miterben hatten 
das gleiche Recht am Grundbesitz. Die freie Kon- 
kurrenz trat an die Stelle der bisherigen Ge- 
bundenheit und staatlichen Vorsorge, das Prinzip 
gleicher mechanischer Erbteilung an Stelle des An- 
erbenrechts. Der Boden wurde rechtlich dem mo- 
bilen Kapital gleichgestellt, er wurde Verkehrs- 
objekt, er wurde mobilisiert. 
   
   
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