Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Es ist nicht zu bestreiten, daß die neue Agrar- 
verfassung dem Grundbesitz einen wirtschaftlichen 
Aufschwung brachte. Der wachsenden Intensität 
der Bodenkultur waren die Güter vielfach zu groß 
oder zu kapitalarm; die geringe Verschuldbarkeit 
hinderte die Zuführung des erforderlichen Betriebs- 
kapitals. Anderseits hatte die Mobilisierung des 
Grundbesitzes, die Gleichberechtigung der Erben, 
die freie Teilbarkeit manches im Gefolge, was 
der Entwicklung der agrarischen Verhältnisse nicht 
dienlich war. Eine unbeschränkte Disposition über 
seinen Grundbesit sollte das sicherste Mittel gegen 
Verschuldung des Besitzers darstellen, da bei Erbtei- 
lungen oder sonstigem Geldbedarf einzelne Grund- 
stücke verkauft werden könnten, so daß das Gut 
schuldenfrei bliebe. Auch sollte dadurch die Kultur 
gefördert werden, weil Einzelverkauf die Mittel 
zu besserer Bewirtschaftung böte, die Ertragsfähig- 
keit des Landes beim Ubergang in bemittelte Hände 
aber ebenfalls stiege. Man glaubte auch durch die 
freie Disposition den kleinen Leuten Gelegenheit 
zum Grunderwerb zu geben, kurz, man erwartete 
alles Heil von der vollständigen Mobilisierung des 
Grundbesitzes. Auf der andern Seite verlangte 
man — namentlich tat es Freiherr v. Stein — 
neben der Befreiung der Bauern die Einführung 
eines dem deutschen Grundbesitz angepaßten Agrar- 
rechts. Stein befürchtete, daß der Mangel an 
Erbfolgebestimmungen zu große Teilbarkeit und 
damit Verarmung und Vernichtung eines tüchtigen 
Bauernstandes herbeiführen würde. 
Weder die Prophezeiungen der einen noch die 
der andern Seite sind ganz in Erfüllung gegangen. 
In technischer Beziehung trat allerdings ein mäch- 
tiger Aufschwung ein als Folge der Reform des 
Agrarrechts, welche dem Grundbesitz größeren 
Kredit, tüchtige Kräfte und größere Schaffenslust 
zuführte. In sozialer Beziehung blieben Hoff- 
nungen und Befürchtungen fast ganz resultatlos., 
Hatte die Reform im Kleinbauerngebiete über- 
haupt wenig geändert, vielmehr nur eine seit Jahr- 
hunderten in Bewegung befindliche Entwicklung 
zum Abschluß gebracht, so blieb auch hier die Real- 
teilung in demselben Maße bestehen. Anderseits 
fand die „Mobilisierung“, die Realteilung in den 
Gebieten des Großgrund= und Großbauernbesitzes, 
wenig Verbreitung. Die Steinschen Befürchtungen 
der Aufteilung des mittleren Besitzes in Zwerg- 
güter ist nur hie und da unter dem Einflusse des 
Code civil eingetreten. Immerhin bleiben noch 
in ½ des Deutschen Reiches die Güter im Erb- 
gange geschlossen. Auch an den alten Vererbungs- 
grundsätzen hinsichtlich der Abfindungen hat die 
Bevölkerung in weiten Kreisen festgehalten. Be- 
denklich und verderblich ist die andere Wirkung, 
daß der unbegrenzte Besitzkredit bei steigenden 
Konjunkturen und sinkendem Zinsfuß die Nach- 
frage nach Grundbesitz anregte und die Boden- 
preise weit über den Ertragswert steigerte, sowie 
daß die hohen Preise namentlich in neuerer Zeit 
auch bei Erbteilungen zugrunde gelegt werden. 
  
  
  
Grundbuchamt. 
dur 
932 
Die Folge war und ist eine enorme Verschuldung 
des Grundbesitzes, der einem bei fallenden Kon- 
junkturen notwendigen Rückgang der Bodenpreise 
hindernd im Wege steht. 
Eine wesentliche Verkleinerung der größeren 
Güter hatte die Agrarreform nicht im Gefolge; 
trotzdem fand durch die kolonisatorische Tätig- 
keit der Staatsregierung im Osten Deutschlands 
(Ansiedlungskommission) eine beträchtliche Ver- 
mehrung der kleinen Stellen statt. Zu bedauern 
ist nur, daß vor Inkrafttreten der Ansiedlungs- 
gesetze diese kolonisatorische Tätigkeit häufig von 
„Güterschlächtern“ betrieben wurde. Die selbstän- 
digen Bauerngüter haben im Laufe des 19. Jahrh. 
durch Auskauf seitens der Großgrundbesitzer und 
Kapitalisten eine wesentliche Verminderung erfah- 
ren, bis Mitte des Jahrhunderts 1/12 ihres Be- 
sitzes. Latifundienbesitzer und industrielle Groß- 
kapitalisten sehen im Grunderwerb eine Sicher- 
heit der Kapitalanlage. Begünstigt wurden diese 
Kapitalanlagen durch die seit den 1880er Jahren 
herrschende Agrarkrisis. Das Problem der Grund- 
besitzfrage liegt in den beiden Begriffen der „Ver- 
schuldung“ und „Vererbung“. Vgl. die Art. Agrar- 
gesetzgebung, Bauernstand. 
Literatur. Lor. v. Stein, Die drei Fragen 
des Grundbesitzes (1881); ders., Bauerngut u. 
Hufenrecht (1882); Buchenberger, Agrarwesen u. 
Agrarpolitik (2 Bde, 1892); Frhr. v. d. Goltz, 
Agrar. Aufgaben der Gegenwart (1894); ders., 
Agrarwesen u. Agrarpolitik (21904); Grosse, For- 
men der Familie u. Formen der Wirtschaft (1896); 
E. v. Hartmann, Soziale Kernfragen (1894). Die 
Art. „Grundbesitz, Bodenzersplitterung, Latifun- 
dien“ im Handwörterbuch der Staatswissenschaften. 
II, III—VII Bruder, rev. Christoph; 
II Christoph.) 
Grundbuchamt bezeichnet die mit der Ver- 
waltung des Grundbuchs betraute Behörde. Das 
Grundbuch ist dasjenige öffentliche Buch, welches 
über den Eigentümer, die Größe und die Lage 
aller Grundstücke eines Gemeindebezirkes sowie 
über deren Belastung mit Dienstbarkeiten, Real- 
lasten und Hypotheken Auskunft gibt. Im rö- 
mischen Recht beruhte der Eigentumsübergang 
bei freiwilliger Veräußerung für bewegliche und 
unbewegliche Sachen auf der Besitzübergabe. Durch 
sie wurde derselbe mit allen rechtlichen Wirkungen 
vollzogen (Traditionsprinziph. Im deutschen 
Recht hatte der natürliche Unterschied zwischen 
beweglichen und unbeweglichen Sachen zu einer 
Verschiedenheit in der Ubertragungsform der Mo- 
bilien und Immobilien geführt. Außerdem er- 
forderte die Verknüpfung politischer Rechte mit 
dem Besitze von Grund und Boden sowie die hier- 
mit zusammenhängende Beschränkung des Besitzers 
ch das Recht des nächsten Erben eine gewisse 
Offentlichkeit der Rechtsverhältmisse, in welchen die 
einzelnen Grundstücke standen. Deshalb wurden, 
während sich bei Mobilien der Eigentumsüber- 
gang durch einfache Übergabe vollzog, für die 
Übertragung von Immobilien bestimmte Formen
	        
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