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dann für die Erziehung der leitende Grundsatz
aufgestellt, daß sie keine positive Einwirkung auf
den Zögling ausüben, vielmehr diesen seiner eignen
freien Entwicklung überlassen und nur dafür sorgen
solle, daß diese nicht durch äußere ungünstige Ein-
flüsse gestört werde. Die Erziehung hat also hier
nur den Charakter einer rein äußerlichen Führung;
die eigentliche Erziehung fällt hier gewissermaßen
dem Zögling selbst zu; die „Selbsterziehung“ ist
es, welche hier proklamiert wird.
Es kann keinen Augenblick zweifelhaft sein, daß
es ein Unding ist, eine solche Selbsterziehung
als Regel für das Kindesalter aufzustellen;
diese kann durch die Erziehung höchstens vorbereitet
werden für das Alter, in dem der heranreifende
Mensch der direkten Einwirkung des Erziehers
nicht mehr unterstellt ist. Besonders für das jüngere
Alter kann nur dieser Grundsatz gelten: Der Zög-
ling muß erzogen werden; die sog. Selbsterziehung
ist die Negation der Erziehung und kann nur zum
Verderben des Zöglings ausschlagen. Die Er-
fahrung lehrt dies genugsam. ÜUberall wo der
Zögling „seiner eignen freien Entwicklung über-
lassen“ wird, wendet er sich nicht zum Guten,
sondern zum Schlimmen; die bösen Neigungen
gewinnen in ihm die Oberhand; sein Wille, weil
von Jugend auf an keine Selbstverleugnung ge-
wöhnt, weiß meist die Herrschaft über jene nicht
festzuhalten, und so wird er zuletzt zum Spielball
aller seiner schlimmen Neigungen und Leiden-
schaften. Es ist eben nicht wahr, daß das Kind,
wie es in die Erziehung eintritt, ganz und in jeder
Beziehung gut, daß gar kein Keim, keine Neigung
zum Bösen ihm angeboren sei. Unbotmäßigkeit,
Eigensinn, Zerstörungssucht, Zornmütigkeit, Lüge
usw. treten im Kinde schon früh zutage, ohne daß
man sagen könnte, diese schlimmen Eigenschaften
seien von außen demselben eingepflanzt worden.
Und je früher diese Unkrautstauden mit energischer
Hand aus dem weichen Herzensacker des Kindes
ausgerissen werden, desto besser ist die Erziehung.
Diechristliche Erziehungslehre geht, wenn es
sich um den ethischen Zustand des in die Erziehung
eintretenden Kindes handelt, von dem christlichen
Dogma der Erbsünde aus. Danach trägt das
Kind in einem gewissen Sinn Böses und Gutes
in sich: ersteres insofern, als es infolge der Erb-
sünde eine Neigung zum Bösen von Natur aus
besitzt, die es zum Bösen anreizt von Jugend auf
(Begierlichkeit); letzteres insofern, als einerseits
seine Natur und seine natürlichen Fähigkeiten dem
Wesen nach intakt und des natürlich Guten fähig
geblieben sind, und daß anderseits in der Tauf-
gnade ein Prinzip in ihm sich angepflanzt hat, das
seine Natur und seine natürlichen Fähigkeiten in
die übernatürliche Ordnung erhebt und es befähigt
zum übernatürlich Guten. Nach diesem seinem
ethischen Zustande muß denn auch das Kind in
der Erziehung behandelt werden. Und demgemäß
hat diese nach christlicher Auffassung eine positive
und eine negative Seite. a) Was zuerst die posi-
Erziehung.
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tive Seite betrifft, so muß die erziehliche Tätigkeit
darauf hingerichtet sein, die Keime des Guten, die
im Kinde vorhanden sind, zu wecken und zur Ent-
wicklung zu bringen. Und zwar gilt solches von
allen guten Eigenschaften insgesamt, sei es daß
sie aus seinen natürlichen Anlagen oder aus der
Taufgnade entspringen. b) Nach ihrer negativen
Seite dagegen ist es Aufgabe der Erziehung, die
schlimmen Neigungen des Zöglings zurückzu-
drängen, zu schwächen und auszurotten; sie muß
daher alle Außerungen derselben, mögen sie offen
oder versteckt, in roher odrr verfeinerter Weise
hervortreten, unerbittlich bekämpfen und darf in
dieser Richtung nie nachlässig sein.
Hiernach verlangt die Erziehung nach christlicher
Auffassung eine direkte Einwirkung auf den Zög-
ling, um ihn zum Guten zu führen und vom Bösen
abzuhalten; die sog. „freie Selbstentwicklung“ im
Sinne des Naturalismus ist damit ausgeschlossen.
Allerdings ist das nicht so zu verstehen, als müßte
der Zögling jener Einwirkung gegenüber sich rein
passiv verhalten; denn da würden in dem Augen-
blick, wo die Erziehung von dem Zögling sich
zurückzieht, die durch die Erziehung bloß zurück-
gedrängten Leidenschaften mit aller Macht wieder
hervortreten. Vielmehr ist es Sache der Erziehung,
die Selbsttätigkeit des Zöglings anzuregen, ihn
zur Selbstverleugnung zu führen. Sie muß den
Zögling dazu anleiten, daß er selbst seine ganze
Kraft für das Gute und gegen das Böse einsetzt,
ja er muß geradezu in die Lage gebracht werden,
daß er wollen muß. Denn es steckt eine ernste
Wahrheit in Herbarts Ausspruch: „Knaben und
Jünglinge müssen gewagt werden, um Männer
zu werden.“ Wagt man nichts an Kindern, so
wagt man sie selber. Nicht die Treibhauspflanzen
sind widerstandsfähig, sondern die Eichen, die im
Sturmesbrausen sich behauptet haben.
Fragen wir endlich noch nach der Stellung, die
das Christentum in der Erziehung einzunehmen
hat, so ergibt sich diese ganz von selbst aus dem,
was oben über den höchsten Erziehungszweck aus-
einandergesetzt worden ist. Wir haben schon gehört,
daß die modern-naturalistische Pädagogik von
einem Einfluß des positiven Christentums auf die
Erziehung nichts wissen will. Man glaubt mit
einer sog. „allgemeinen Religion“ auszureichen,
wenn anders man überhaupt noch ein religiöses
Element in die Erziehung aufnehmen will. Das ist
nun ein großer Irrtum. Der Inhalt einer solchen
„allgemeinen Religion“ würde einzig von dem Er-
messen des Lehrers oder Erziehers abhängen, und
ebenso würde es im Belieben des Zöglings stehen,
ob er den vom Erzieher mitgeteilten Lehren bei-
stimmen wolle oder nicht. Damit würde sich alle
religiöse Unterweisung völlig ins Unbestimmte auf-
lösen und daher für die Erziehung schlechterdings
ohne allen Wert sein. — Nach christlicher Anschau-
ung ist der Mensch zu einem ewigen Leben geschaffen
worden, dessen Erreichung im Jenseits sein ganzes
gegenwärtiges Leben dienen muß. Dieses über-