Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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dann für die Erziehung der leitende Grundsatz 
aufgestellt, daß sie keine positive Einwirkung auf 
den Zögling ausüben, vielmehr diesen seiner eignen 
freien Entwicklung überlassen und nur dafür sorgen 
solle, daß diese nicht durch äußere ungünstige Ein- 
flüsse gestört werde. Die Erziehung hat also hier 
nur den Charakter einer rein äußerlichen Führung; 
die eigentliche Erziehung fällt hier gewissermaßen 
dem Zögling selbst zu; die „Selbsterziehung“ ist 
es, welche hier proklamiert wird. 
Es kann keinen Augenblick zweifelhaft sein, daß 
es ein Unding ist, eine solche Selbsterziehung 
als Regel für das Kindesalter aufzustellen; 
diese kann durch die Erziehung höchstens vorbereitet 
werden für das Alter, in dem der heranreifende 
Mensch der direkten Einwirkung des Erziehers 
nicht mehr unterstellt ist. Besonders für das jüngere 
Alter kann nur dieser Grundsatz gelten: Der Zög- 
ling muß erzogen werden; die sog. Selbsterziehung 
ist die Negation der Erziehung und kann nur zum 
Verderben des Zöglings ausschlagen. Die Er- 
fahrung lehrt dies genugsam. ÜUberall wo der 
Zögling „seiner eignen freien Entwicklung über- 
lassen“ wird, wendet er sich nicht zum Guten, 
sondern zum Schlimmen; die bösen Neigungen 
gewinnen in ihm die Oberhand; sein Wille, weil 
von Jugend auf an keine Selbstverleugnung ge- 
wöhnt, weiß meist die Herrschaft über jene nicht 
festzuhalten, und so wird er zuletzt zum Spielball 
aller seiner schlimmen Neigungen und Leiden- 
schaften. Es ist eben nicht wahr, daß das Kind, 
wie es in die Erziehung eintritt, ganz und in jeder 
Beziehung gut, daß gar kein Keim, keine Neigung 
zum Bösen ihm angeboren sei. Unbotmäßigkeit, 
Eigensinn, Zerstörungssucht, Zornmütigkeit, Lüge 
usw. treten im Kinde schon früh zutage, ohne daß 
man sagen könnte, diese schlimmen Eigenschaften 
seien von außen demselben eingepflanzt worden. 
Und je früher diese Unkrautstauden mit energischer 
Hand aus dem weichen Herzensacker des Kindes 
ausgerissen werden, desto besser ist die Erziehung. 
Diechristliche Erziehungslehre geht, wenn es 
sich um den ethischen Zustand des in die Erziehung 
eintretenden Kindes handelt, von dem christlichen 
Dogma der Erbsünde aus. Danach trägt das 
Kind in einem gewissen Sinn Böses und Gutes 
in sich: ersteres insofern, als es infolge der Erb- 
sünde eine Neigung zum Bösen von Natur aus 
besitzt, die es zum Bösen anreizt von Jugend auf 
(Begierlichkeit); letzteres insofern, als einerseits 
seine Natur und seine natürlichen Fähigkeiten dem 
Wesen nach intakt und des natürlich Guten fähig 
geblieben sind, und daß anderseits in der Tauf- 
gnade ein Prinzip in ihm sich angepflanzt hat, das 
seine Natur und seine natürlichen Fähigkeiten in 
die übernatürliche Ordnung erhebt und es befähigt 
zum übernatürlich Guten. Nach diesem seinem 
ethischen Zustande muß denn auch das Kind in 
der Erziehung behandelt werden. Und demgemäß 
hat diese nach christlicher Auffassung eine positive 
und eine negative Seite. a) Was zuerst die posi- 
Erziehung. 
  
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tive Seite betrifft, so muß die erziehliche Tätigkeit 
darauf hingerichtet sein, die Keime des Guten, die 
im Kinde vorhanden sind, zu wecken und zur Ent- 
wicklung zu bringen. Und zwar gilt solches von 
allen guten Eigenschaften insgesamt, sei es daß 
sie aus seinen natürlichen Anlagen oder aus der 
Taufgnade entspringen. b) Nach ihrer negativen 
Seite dagegen ist es Aufgabe der Erziehung, die 
schlimmen Neigungen des Zöglings zurückzu- 
drängen, zu schwächen und auszurotten; sie muß 
daher alle Außerungen derselben, mögen sie offen 
oder versteckt, in roher odrr verfeinerter Weise 
hervortreten, unerbittlich bekämpfen und darf in 
dieser Richtung nie nachlässig sein. 
Hiernach verlangt die Erziehung nach christlicher 
Auffassung eine direkte Einwirkung auf den Zög- 
ling, um ihn zum Guten zu führen und vom Bösen 
abzuhalten; die sog. „freie Selbstentwicklung“ im 
Sinne des Naturalismus ist damit ausgeschlossen. 
Allerdings ist das nicht so zu verstehen, als müßte 
der Zögling jener Einwirkung gegenüber sich rein 
passiv verhalten; denn da würden in dem Augen- 
blick, wo die Erziehung von dem Zögling sich 
zurückzieht, die durch die Erziehung bloß zurück- 
gedrängten Leidenschaften mit aller Macht wieder 
hervortreten. Vielmehr ist es Sache der Erziehung, 
die Selbsttätigkeit des Zöglings anzuregen, ihn 
zur Selbstverleugnung zu führen. Sie muß den 
Zögling dazu anleiten, daß er selbst seine ganze 
Kraft für das Gute und gegen das Böse einsetzt, 
ja er muß geradezu in die Lage gebracht werden, 
daß er wollen muß. Denn es steckt eine ernste 
Wahrheit in Herbarts Ausspruch: „Knaben und 
Jünglinge müssen gewagt werden, um Männer 
zu werden.“ Wagt man nichts an Kindern, so 
wagt man sie selber. Nicht die Treibhauspflanzen 
sind widerstandsfähig, sondern die Eichen, die im 
Sturmesbrausen sich behauptet haben. 
Fragen wir endlich noch nach der Stellung, die 
das Christentum in der Erziehung einzunehmen 
hat, so ergibt sich diese ganz von selbst aus dem, 
was oben über den höchsten Erziehungszweck aus- 
einandergesetzt worden ist. Wir haben schon gehört, 
daß die modern-naturalistische Pädagogik von 
einem Einfluß des positiven Christentums auf die 
Erziehung nichts wissen will. Man glaubt mit 
einer sog. „allgemeinen Religion“ auszureichen, 
wenn anders man überhaupt noch ein religiöses 
Element in die Erziehung aufnehmen will. Das ist 
nun ein großer Irrtum. Der Inhalt einer solchen 
„allgemeinen Religion“ würde einzig von dem Er- 
messen des Lehrers oder Erziehers abhängen, und 
ebenso würde es im Belieben des Zöglings stehen, 
ob er den vom Erzieher mitgeteilten Lehren bei- 
stimmen wolle oder nicht. Damit würde sich alle 
religiöse Unterweisung völlig ins Unbestimmte auf- 
lösen und daher für die Erziehung schlechterdings 
ohne allen Wert sein. — Nach christlicher Anschau- 
ung ist der Mensch zu einem ewigen Leben geschaffen 
worden, dessen Erreichung im Jenseits sein ganzes 
gegenwärtiges Leben dienen muß. Dieses über-
	        
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