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eine Industrie als einer solchen Aufgabe nicht ge-
wachsen sich erweisen würde.
B. Rechtliche Entwicklung. 1. Einhei-
mische Gesetzgebung. Den Ruhm, auf dem
Gebiete der Haftpflicht bei gewerblichen Unfällen
bahnbrechend gewesen zu sein, darf das Deutsche
Reich unter der Führung Preußens für sich be-
anspruchen. Preußen hatte bereits im Jahre 1838
durch sein Eisenbahngesetz für die Angestellten der
Eisenbahnen einen brauchbaren Rechtszustand her-
gestellt. Das Deutsche Reich hat dann zuerst in
seinem Reichshaftpflichtgesetz von 1871 eine all-
gemeine Reglung dieser Frage im Geiste der enge-
ren Haftpflicht, d. h. der Haftbarmachung des ein-
zelnen Arbeitgebers, erhalten, welche diesen Ge-
danken wenigstens so weit entwickelte, wie es da-
mals durchführbar erschien. Es hat dann aber
auch bald, in richtiger Erkenntnis, daß eine solche
Reglung bei der fortschreitenden industriellen Ent-
wicklung Deutschlands auf die Dauer nicht ge-
nügen könne, zuerst mit seiner Unfallversicherungs-
gesetzgebung den Weg gefunden zu einer weit-
sichtigeren Reglung der Frage im Sinne der oben
vertretenen Grundsätze.
a) Der Rechtszustand vor 1871. Bis
zum Erlaß des Haftpflichtgesetzes von 1871 gab
es in Deutschland große Verschiedenheit. Auf
dem ganzen linken Rheinufer, dann in Baden und
den ehemals zum Großherzogtum Berg gehörigen
Landesteilen auf dem rechten Rheinufer herrschte
das französische Recht und mit diesem ein verhält-
nismäßig erträglicher Zustand. Das Gemeine
Recht dagegen, das preußische Allgemeine Land-
recht (TI I. Tit. 6) und die übrigen deutschen
Partikularrechte folgten dem römischen Recht,
welches von dem Grundsatz ausgeht, daß man
nur für den absichtlich oder durch eigene Nach-
lässigkeit verursachten Schaden ersatzpflichtig ist.
Es haftete also nur der unmittelbare Schaden-
stifter selbst, dagegen der Auftraggeber desselben,
der Fabrikherr usw., nur dann, wenn ihn bei Aus-
wahl seines Beauftragten eine erweisliche Schuld
traf. Die letztere Verbindlichkeit hatte das preu-
Kische Allgemeine Landrecht (TI I. Tit. 6, 8 53) noch
weiter dahin beschränkt, daß der Auftraggeber für
den von seinem Vertreter verursachten Schaden
nur so weit einzustehen hatte, als der Beschädiger
selbst unvermögend war. Dabei war der Beweis
durch die geltende formalistische Beweistheorie und
den Ausschluß des freien richterlichen Ermessens
äußerst erschwert. Daß eine in so enge Grenzen
eingeschlossene Verantwortlichkeit des Fabrikherrn
dem bei industriellen Unternehmungen durch Fahr-
lässigkeit eines andern, eines Mitarbeiters oder
Aufsehers, beschädigten Arbeiter nur in sehr seltenen
Fällen und dem ohne nachweisbare Schuld einer
bestimmten Person Beschädigten niemals eine
Aussicht auf Schadloshaltung eröffnete, liegt
auf der Hand. Der Mangel war um so fühl-
barer, als der Abstand gegen die hervorragenden
Industriegegenden am Rhein, wo französisches
Haftpflicht.
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Recht galt, auf Schritt und Tritt sich bemerkbar
machte
Diese Grundsätze wurden zum erstenmal durch-
brochen durch das preußische Gesetz über die
Eisenbahn unternehmungen vom 3. Nov. 1838,
welches in § 25 bestimmte: „Die (Eisenbahn-)
Gesellschaft ist zum Ersatz verpflichtet für allen
Schaden, welcher bei der Beförderung auf der
Bahn an den auf derselben beförderten Personen
und Gütern oder auch an andern Personen und
deren Sachen entsteht, und sie kann sich von dieser
Verpflichtung nur durch den Beweis befreien, daß
der Schaden entweder durch die eigene Schuld des
Beschädigten oder durch einen unabwendbaren
äußeren Zufall bewirkt worden ist. Die gefähr-
liche Natur der Unternehmung selbst ist als ein
solcher von dem Schadenersatz befreiender Zufall
nicht zu betrachten.“ Der Schwerpunkt dieses da-
mals ganz neuen gesetzgeberischen Gedankens,
welcher später auch in einigen andern kleineren
deutschen Staaten zur Anerkennung gelangte, liegt
einmal in der Erweiterung der Haftung der Eisen-
bahnen auf diejenigen Unfälle, welche durch Zu-
fall entstanden sind, und dann in der Verschiebung
der Beweislast: der Beschädigte braucht weder ein
Verschulden der Eisenbahn noch einen Zufall nach-
zuweisen; die Eisenbahn ist bei jedem Unfall er-
satzpflichtig, wenn sie nicht den Beweis der sie ent-
lastenden Umstände erbringt. Eine vom Verschul-
den unabhängige Haftpflicht wegen Sachbeschädi-
gung regelt das Gesetz vom 3. Mai 1869. Vgl.
d. Art. Eisenbahnen (Bd I. Sp. 1532 f).
Während so für Eisenbahnen schon seit 1838
eine ganz erhebliche Ausdehnung der Haftpflicht
eingeführt wurde, hielt man eine grundsätzliche
Fortbildung der herrschenden Bestimmungen beie
Neureglung des Bergwesens in Preußen im
Jahre 1865 noch nicht für angebracht, obwohl
der Bergbau in betreff der Gefährlichkeit des Be-
triebes den Eisenbahnen sehr nahesteht und ge-
rade hier nicht selten Massenunglücke eintreten, die
weder auf eigenes Verschulden der Verunglückten
noch auf höhere Gewalt, sondern auf die allgemeine
Gefährlichkeit des Betriebes zurückzuführen sind
und bei welchen vor allem die etwa stattgehabte
Schuld eines Beamten fast niemals nachzuweisen
ist. Der Grund war, daß im Bergbau seit alters
eigene Genossenschaften, Knappschaften genannt,
bestanden, welche unter anderem auch dem Zwecke
der Unfallversicherung, wenn auch nicht in ge-
nügendem Maße, so doch mit brauchbaren Grund-
sätzen dienten. Eine Neureglung der Knappschaften
erfolgte im preußischen Berggesetz vom 24. Juni
1865, das in den meisten übrigen deutschen Staa-
ten teils eingeführt teils nachgeahmt worden ist.
Vgl. d. Art. Bergwesen (Bd I, Sp. 792#h.
b) Der Rechtszustand seit 1871. Für
alle andern Betriebszweige, welche keine derartigen
Einrichtungen besaßen, wurden inzwischen die Zu-
stände je länger desto unhaltbarer. Sie brachten
eine Agitation zugunsten einer neuen Haftpflicht-