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gesetzgebung, die schließlich in der ersten Session
des deutschen Reichstages die Reichsregierung
veranlaßte, einen Entwurf vorzulegen, welcher
mit geringen Abänderungen angenommen und
als Reichsgesetz betreffend die Verbindlichkeit zum
Schadenersatz für die bei dem Betriebe von Eisen-
bahnen, Bergwerken usw. herbeigeführten Tötun-
gen und Körperverletzungen vom 7. Juni 1871,
gewöhnlich kurzweg Reichs-Haftpflichtgesetz
genannt, veröffentlicht wurde.
Die wichtigsten Bestimmungen desselben find:
§ 1. Wenn bei dem Betriebe einer Eisenbahn ein
haftet der Betriebsunternehmer für den dadurch
entstandenen Schaden, sofern er nicht beweist, daß
der Unfall durch höhere Gewalt oder durch eigenes
Verschulden des Getöteten oder Verletzten verur-
sacht ist. § 2. Wer ein Bergwerk, einen Steinbruch,
eine Gräberei (Grube) oder eine Fabrik betreibt,
haftet, wenn ein Bevollmächtigter oder Repräsen-
tant oder eine zur Leitung oder Beaufsichtigung
des Betriebes oder der Arbeiter angenommene
Person durch ein Verschulden in Ausführung der
Dienstverrichtungen den Tod durch die Körperver-
letzung eines Menschen herbeigeführt hat, für den
dadurch entstandenen Schaden. § 3. Der Schaden-
ersatz ist zu leisten: 1) im Fall einer Tötung durch
Ersatz der Kosten einer versuchten Heilung und der
Beerdigung sowie des Vermögensnachteiles, welchen
der Getötete während der Krankheit durch Erwerbs-
unfähigkeit oder Verminderung der Erwerbsfähig-
keit erlitten hat. War der Getötete zur Zeit seines
Todes vermöge Gesetzes verpflichtet, einem andern
Unterhalt zu gewähren, so kann dieser insoweit Er-
satz fordern, als ihm infolge des Todesfalles der
Unterhalt entzogen worden ist; 2) im Fall einer
Körperverletzung durch Ersatz der Heilungskosten
und des Vermögensnachteiles, welchen der Verletzte
durch eine infolge der Verletzung eingetretene zeit-
weise oder dauernde Erwerbsunfähigkeit oder Ver-
minderung der Erwerbsfähigkeit erleidet. § 4. War
der Getötete oder Verletzte unter Mitleistung von
Prämien oder andern Beiträgen durch den Be-
triebsunternehmer bei einer Versicherungsanstalt,
Knappschafts-, Unterstützungs-, Kranken= oder ähn-
lichen Kasse gegen den Unfall versichert, so ist die
Leistung der letzteren an den Ersatzberechtigten auf
die Entschädigung einzurechnen, wenn die Mitlei-
stung des Betriebsunternehmers nicht unter einem
Drittel der Gesamtleistung beträgt. § 5. Vertrags-
bestimmungen, welche dieser Vorschrift entgegen-
stehen, haben keine rechtliche Wirkung. § 6. Das
Gericht hat über die Wahrheit der tatsächlichen Be-
hauptungen unter Berücksichtigung des gesamten
Inhaltes der Verhandlungen nach freier überzeu-
gung zu entscheiden. § 7. Das Gericht hat unter
Würdigung aller Umstände über die Höhe des
Schadens sowie darüber, ob, in welcher Art und in
welcher Höhe Sicherheit zu leisten ist, nach freiem
Ermessen zu erkennen. Als Ersatz für den zukünf-
tigen Unterhalt oder Erwerb ist, wenn nicht beide
Teile über eine Abfindung in Kapital einig sind,
in der Regel eine Rente zuzubilligen. § 8. Die
Forderungen auf Schadenersatz verjähren in zwei
Jahren vom Tage des Unfalles an.
Em großer Fortschritt in diesem Gesetz läßt
sich nicht verkennen. § 1 dehnt den Grundsatz
Haftpflicht.
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des alten preußischen Eisenbahngesetzes auf ganz
Deutschland aus. § 2 führt in gewissen dort auf-
gezählten Betriebszweigen eine für alle deutschen
Gebiete mit Ausnahme der französisch-rechtlichen
ganz neue Haftung des Unternehmers für das
Verschulden gewisser, wenn auch nicht aller An-
gestellten ein. Die §§ 6 und 7 führen die freie
Beweiswürdigung ein, ein Grundsatz, den bisher
ebenso nur das französische Recht kannte und der
späterhin erst durch die Reichszivilprozeßordnung
von 1877 allgemein durchgeführt worden ist. Wie
« sehr dieser dem Richter ein Eingehen auf die Ab-
Mensch getötet oder körperlich verletzt wird, so #(
sichten des Gesetzgebers herade bei Haftpflicht-
prozessen erleichtert, ergibt sich aus der Natur
dieser Prozesse, welche in den seltensten Fällen
einen nach allen Seiten hin stichhaltigen Beweis
sowohl hinsichtlich der Verschuldung als hinsicht-
lich der Höhe des Schadens zuläßt.
Zuungunsten des neuen Gesetzes fällt auf, daß
dasselbe nicht einmal so weit geht wie das fran-
zösische Recht, dessen Bestimmungen deshalb nach
§ 9 auch neben demselben in Kraft blieben. Es
war eben, wie die Motive sagen, „ein Spezial=
gesetz, um denjenigen, welche bei mit ungewöhn-
licher Gefahr verbundenen Unternehmungen an
Leib oder Leben geschädigt worden, bzw. ihren
Hinterbliebenen einen Ersatz des erlittenen Scha-
dens zu sichern“. Eine generelle Reglung der
Haftpflicht wollte man dem zu erwartenden neuen
deutschen Zivilrecht vorbehalten. Man vermißte
demgemäß in dem Gesetz eine Bestimmung über
die Haftung der Unternehmer für das Verschul-
den ihrer gewöhnlichen Arbeiter, über eine Haf-
tung in allen andern als den im § 2 genannten
Gewerben, vor allem im Baugewerbe, in der Land-
und Forstwirtschaft sowie bei der Schiffahrt, und
eine genauere Bestimmung des Schuldbegriffes.
Zwar hatte schon § 107 der Reichsgewerbe-
ordnung vom 21. Juni 1869 (später § 120)
bestimmt: „Die Gewerbeunternehmer sind ver-
pflichtet, alle diejenigen Einrichtungen herzustellen
und zu unterhalten, welche mit Rücksicht auf
die besondere Beschaffenheit des Gewerbebetriebes
und der Betriebsstätte zu tunlichster Sicherheit
gegen Gefahr für Leben und Gesundheit not-
wendig sind“. Eine Nachlässigkeit in diesen Sicher-
heitsmaßregeln mußte seitdem als Schuld be-
trachtet werden. Infolge seiner zu allgemeinen
Fassung und mangels genügender Einzelvorschrif-
ten für die verschiedenen Industriezweige blieb
jedoch auch diese Bestimmung ohne durchgreifende
Wirkung. Deshalb fügte ihr die Novelle zur
Reichsgewerbeordnung vom 17. Juli 1878 die
Bestimmung hinzu: „Darüber, welche Einrich-
tungen für alle Anlagen einer bestimmten Art
herzustellen sind, können durch Beschluß des Bun-
desrates Vorschriften erlassen werden. Soweit
solche nicht erlassen sind, bleibt es den nach den
Landesgesetzen zuständigen Behörden überlassen.
die erforderlichen Bestimmungen zu treffen.“" Bun-
desrätliche Vorschriften sind jedoch leider niemals