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erlassen worden, und landesrechtliche kamen kaum
in Betracht, so daß es der Rechtsprechung der
Gerichte über die Schuldfrage nach wie vor an
einem sichern gemeinsamen Boden fehlte.
Im ganzen konnte das Gesetz trotz seiner ver-
hältnismäßigen Güte dem vorhandenen Bedürf-
nis nicht in genügendem Maße abhelfen. Geht
man von der statistisch nachgewiesenen Tatsache
aus, daß von allen gewerblichen Unfällen nur die
Hälfte auf die sog. haftpflichtigen Gewerbe kam,
daß von dieser Hälfte nur bei einem Teile ein
„Verschulden eines Bevollmächtigten, Repräsen-
tanten, Leiters oder Aufsehers“ nachgewiesen wer-
den konnte, daß von diesen noch einmal ein Teil
mit geringen, oft ganz unerheblichen Entschädi-
gungen außergerichtlich sich abfinden ließ, weil der
Beschädigte die Langwierigkeit des Prozessesscheute,
so wird man es begreiflich finden, daß nur der
kleinste Teil der gewerblichen Unfälle auf Grund
des Haftpflichtgesetzes eine volle Entschädigung
fand. Man hat berechnet, daß nur bei 12% aller
Betriebsunfälle das Haftpflichtgesetz seine wohl-
tätigen Wirkungen äußerte. Ein fernerer Mangel
war der, daß der Arbeiter tatsächlich ohne Ent-
schädigung blieb, wenn der Unternehmer zahlungs-
unfähig wurde. Ein wahres Kreuz aber sowohl
für die Gerichte wie für die Parteien mußten die
Haftpflichtprozesse genannt werden. Sie waren
die Ursache endloser Feindschaft und Verbitterung
zwischen Arbeiter und Fabrikherr, die selbst nicht
durch eine billige Entscheidung des Gerichts ge-
heilt wurden. Sie waren der Ausdruck und der
Träger eines unseligen Gegensatzes, der ein fried-
liches Verhältnis zwischen beiden Ständen viel-
fach nicht aufkommen ließ. Auch war nicht zu
verkennen, daß in einzelnen Fällen die von den
Gerichten zugesprochenen Entschädigungen die Exi-
stenzsfähigkeit der verpflichteten Fabriken in Frage
stellen mußten. In allen Fällen waren die hohen
hüsen der Unfallprozesse eine große Unzuträg-
lichkeit.
Eine Ausgleichung dieser Mißstände hatte man
von den Unfallversicherungs-Aktien-
gesellschaften gehofft, welche seit Erlaß des
Haftpflichtgesetzes einen raschen Ausschwung nah-
men. Einige derselben versicherten gegen natürlich
von den Unternehmern zu zahlende Prämien die
Entschädigung aller Unfälle, welche unter das
Haftpflichtgesetz fielen, andere versicherten eine
Entschädigung aller Unfälle, auch wenn der Un-
ternehmer selbst nicht haftbar war. Die Praxis
dieser Gesellschaften war jedoch nicht derart, daß
man sie als einen durchschlagenden Fortschritt zur
Lösung der Haftpflichtfrage betrachten konnte.
Allerdings erhielt in ihnen der Arbeiter indirekt
einen leistungsfähigen Gläubiger. Die Gesell-
schaften faßten durchweg ihren Standpunkt als
Erwerbsgesellschaften dahin auf, daß sie es aus
geschäftlichen Rücksichten in den weitaus meisten
Fällen auf den Prozeß ankommen ließen und die
versicherte Entschädigung nur auszahlten, wenn
Haftpflicht.
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der Arbeiter sein Recht gerichtlich erstritten hatte.
Der letztere hatte somit statt eines wohlwollen-
deren einen hartnäckigeren und hartherzigeren
Gläubiger erhalten, der zudem dem moralischen
Druck der Menschlichkeit und der öffentlichen
Meinung gegenüber fast unempfindlich war. —
Auch die auf Gegenseitigkeit gegründeten Versiche-
rungsgesellschaften zeigten eine wenig erwünschte
Angstlichkeit und selbst Engherzigkeit bei Reglun-
gen der Entschädigungen. Die bureaukratische Ver-
waltung konnte ihre Natur nicht verleugnen.
Eine Wendung in der grundsätzlichen Auf-
fassung des Verhältnisses zwischen Arbeiter und
Arbeitgeber war damit unumgänglich notwendig
geworden, besonders nachdem die von liberaler
Seite ausgehenden Bestrebungen, die Haftpflicht
des einzelnen Unternehmers zu ergänzen durch die
gesetzliche Pflicht desselben, seine Arbeiter bei Un-
fallversicherungsgesellschaften zu versichern (An-
trag Buhl, 1882), ihrer Halbheit wegen geschei-
tert waren. Sie trat ein mit dem Beginn der
neuen sozialpolitischen Gesetzgebung im Deutschen
Reich. Vgl. die Art. Hilfskassen und Arbeiterver-
sicherung (Bd I, Sp. 317 ff).
Diebezüglichen Gesetze verfolgen ein Prinzip, das
von dem Standpunkt des Haftpflichtgesetzes wesent-
lich verschieden ist. An die Stelle der individuali-
stischen Auffassung des Verhältnisses zwischen Ar-
beiter und Arbeitgeber ist eine organische Lösung
der Frage aus dem Prinzip der Solidarität der
Industrie heraus getreten, wie sie der modernen
Entwicklung des Industrialismus allein entspricht.
In Deutschland ist damit der Boden der engeren
Haftpflicht grundsätzlich verlassen. An ihre Stelle
ist eine allgemeine Versicherung aller gewerblichen
Unfälle durch die Berufsgenossenschaften getreten,
welche in verhältnismäßia einfachem Verfahren
billige Entschädigungen festsetzt.
Nur in sehr wenigen, hier nicht in Betracht
kommenden Beziehungen hat das Haftpflichtgesetz
noch eine Wirksamkeit behalten. Eine neue Re-
daktion mehrerer seiner Bestimmungen, welche
teils Streitfragen abschnitt, teils Lücken ausfüllte,
brachte das Einf.Ges. zum B.G. B. in Art. 42.
Das Bürgerliche Gesetzbuch selbst gab in
§§ 823 ff eine neue Ausgestaltung der allgemeinen
Haftung aus eigenem Verschulden, welche über den
Gesichtskreis des römischen Rechts weit hinaus-
geht und in § 831 den Grundsatz einführt: „Wer
einen andern zu einer Verrichtung bestellt, ist zum
Ersatz des Schadens verpflichtet, den der andere in
Ausführung der Verrichtung einem Dritten wider-
rechtlich zufügt. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein,
wenn der Geschäftsherr bei der Auswahl der be-
stellten Person und, sofern er Vorrichtungen oder
Gerätschaften zu beschaffen oder die Ausführung
der Verrichtung zu leiten hat, bei der Beschaffung
oder der Leitung die im Verkehr erforderliche Sorg-
falt beobachtet oder wenn der Schaden auch bei An-
wendung dieser Sorgfalt entstanden sein würde.“
Die 88§ 823, 831/32, 842/45 regeln eine allge-