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eigentlichen Haftpflichtgesetzgebung überwunden
oder vielmehr übersprungen.
b) England. In diesem wichtigsten Industrie-
lande steht noch heute die Gesetzgebung auf dem
Boden der Haftpflicht im engeren Sinne. Bis
1880 richtete sich die Beurteilung der gewerblichen
Unfälle ausschließlich nach dem Gemeinen Recht,
das als Gewohnheitsrecht ungeschrieben und nur in
seiner Anwendung durch die Gerichte erkennbar ist.
Der durchgehende, aus der germanischen Rechts-
entwicklung erwachsene, daher etwas abweichende
Grundsatz desselben war, daß man für Schäden
nur haftete bei eigenem Verschulden, insbesondere
bei eigener Nachlässigkeit, und nur sofern dem Be-
schädigten selbst keine Nachlässigkeit zur Last fiel.
Dieser Satz galt gleichmäßig für alle Verhält-
nisse, für Hauswirtschaft, Landwirtschaft, Hand-
werk und Industrie. Eine Ausnahme fand nicht
einmal bei Eisenbahnen statt. Als Nachlässigkeit
galt die Nichtachtung der gewöhnlichen Vorsicht
eines ordentlichen Mannes, auch ein schuldhaftes
Verhalten bei Auswahl oder Beibehaltung der be-
schäftigten Personen. Trat der Arbeiter in einen
Betrieb ein, dessen Gefährlichkeit er kannte oder
den Umständen nach kennen mußte, so hatte er,
wenn er einen Unfall erlitt, kein Recht auf Ent-
schädigung. Außer für eigene Schuld haftete der
Unternehmer nur noch für die Schuld seiner Stell-
vertreter. Für die Nachlässigkeit der von ihm ein-
gestellten gewöhnlichen Arbeiter und Ausseher, die
nicht als seine Stellvertreter bestellt waren, haf-
tete er seinen eigenen Arbeitern gegenüber nicht.
Wohl haftete er für diese allen dritten, in seinem
Betriebe nicht beschäftigten Personen, und hier so-
gar dann, wenn die schädigende Handlung oder
Unterlassung einer ausdrücklichen Weisung des Ge-
schäftsherrn zuwiderlief. Eine Erleichterung des
Beweises zugunsten des verletzten Arbeiters fand
nicht statt.
Die Unbilligkeit dieser Gesetzgebung war ein-
leuchtend. Im ganzen waren Entschädigungen mehr
Ausnahmen als Regel. Einen Fortschritt brachte
zuerst das Gesetz vom 7. Sept. 1880 mit Rechts-
kraft vom 1. Jan. 1881 ab. Seine wesentlichen
Bestimmungen sind folgende: 1) Wenn ein Ar-
beiter eine Verletzung erleidet a) infolge des mangel-
haften Zustandes der Einrichtungen, Maschinen,
Werkzeuge und Inventarstücke; b) infolge der Nach-
lässigkeit einer Person, die mit der Aussicht be-
traut ist; c) infolge der Nachlässigkeit einer vom
Arbeitgeber beschäftigten Person, nach deren An-
weisung der Arbeiter sich zu richten hatte; d) in-
folge der Handlung oder Unterlassung einer beim
Arbeitgeber beschäftigten Person, welche den ihr
erteilten Instruktionen entspricht; e) bei Eisen-
bahnen infolge der Nachlässigkeit einer im Dienste
des Arbeitgebers stehenden Person, welche mit der
Leitung oder Beaufsichtigung von Signalen oder
Lokomotiven oder Zügen beauftragt ist: so kann
er selbst oder im Falle seines Todes sein Erbe von
dem Arbeitgeber eine Entschädigung in derselben
Haftpflicht.
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Weise beanspruchen, als wenn er bei demselben
nicht beschäftigt worden wäre. 2) Dem Arbeiter
steht indessen kein Entschädigungsanspruch zu,
wenn al der obige mangelhafte Zustand nicht dem
Arbeitgeber oder einem seiner Bediensteten zuzu-
schreiben ist; b) wenn die erwähnte Handlung
oder Unterlassung nicht der Mangelhaftigkeit der
erlassenen Instruktion zuzuschreiben ist; c) wenn
der Arbeiter von der Mangelhaftigkeit oder Nach-
lässigkeit, welche seine Verletzung zur Folge hatte,
Kenntnis gehabt und es unterlassen hat, an ge-
eigneter Stelle Anzeige zu erstatten, wofern er
nicht wußte, daß sein Arbeitgeber oder dessen
Stellvertreter von derselben bereits Kenntnis hatte.
3) Der Entschädigungsbetrag soll die Summe nicht
übersteigen, welche den Einnahmen eines Arbeiters
während der drei vorhergehenden Jahre in dem-
selben Berufe und derselben Gegend entspricht.
4) Entschädigungsansprüche sind hinfällig, wenn
dieselben nicht innerhalb sechs Wochen nach dem
Unfall angemeldet und der Prozeß innerhalb sechs
Monaten nach dem Unfall oder innerhalb zwölf
Monaten nach dem Todesfall angestrengt worden
ist, wofern nicht bei diesem der Richter der An-
sicht sein sollte, daß eine begründete Entschuldigung
für das Nichterfolgen der Anmeldung vorliegt.
Dieses Gesetz gilt für alle Betriebszweige ein-
schließlich Dandwerk, Baugewerbe und Landwirt-
schaft. Nur die häuslichen Dienstboten sind aus-
genommen. Es erfüllte die an dasselbe geknüpften
Hoffnungen jedoch nur in geringem Maße. Um-
gehungen der an und für sich schon so geringen Ver-
pflichtungen aus demselben waren an der Tages-
ordnung.
Einen weiteren Fortschritt brachte die Work-
men'’s Compensation Act 1897 mit Rechts-
kraft vom 1. Juli 1898. In Anlehnung an das
deutsche Haftpflichtrecht, doch in eigenartiger, auf
die englischen Anschauungen Rücksicht nehmender
Weise behandelt es die Entschädigung von Un-
fällen bei Eisenbahnen, in Fabriken, Bergwerken,
Steinbrüchen, Maschinenwerken und bei Bauten.
Für diese haftet der Unternehmer, sofern nicht der
Arbeiter selbst durch ernstliches und absichtliches
Mißverhalten den Unfall verschuldet hat. Unfälle,
welche eine Arbeitsunfähigkeit von weniger als
zwei Wochen verursachen, fallen nicht unter das
Gesetz. Als Entschädigung soll, wenn der Tod
eingetreten ist, an die Hinterbliebenen eine feste
Summe, wenn Arbeitsunfähigkeit eingetreten ist,
an den verunglückten Arbeiter eine Wochenzahlung
geleistet werden, welche nicht über 50 % des durch-
schnittlichen Wochenverdienstes, auch nicht über
20 M betragen darf. Für die Festsetzung der
Entschädigungen ist ein schiedsgerichtliches Ver-
fahren vorgesehen. Eine bedauerliche Konzession
an die sog. englische Rechtsauffassung ist die Be-
stimmung, daß der Unternehmer durch Vertrag
mit dem Arbeiter sich von seiner Entschädigungs-
pflicht befreien kann. Daß diese Bestimmungen
nicht genügen, zeigt das in jüngster Zeit sich ver-