Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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stärkende Bestreben, ein der deutschen Unfall- 
versicherungsgesetzgebung ähnliches Recht zu er- 
langen. 
c) Frankreich. Das französische Recht hatte 
schon seit 1804 durch Aufstellung allgemeiner 
Grundsätze die Haftfrage in einer Weise geregelt, 
welche die Bedürfnisse der kommenden gewerblichen 
Entwicklung in merkwürdiger Weise antizipierte, 
so sehr, daß im ganzen Geltungsbereich des fran- 
zösischen Rechts besondere Bestimmungen über 
gewerbliche Unfälle erst viel spärer als anderswo 
dringend geworden sind. Der Code civil be- 
stimmte kurz und bündig: Art. 1383: Jeder ist 
für den Schaden verantwortlich, den er durch 
seine Handlung oder auch nur durch seine Nach- 
lässigkeit oder Unvorsichtigkeit verursacht hat. 
Art. 1384: Man ist nicht allein für den Schaden 
verantwortlich, den man durch seine eigene Hand- 
lung verursacht, sondern auch für denjenigen, der 
durch die Handlung (oder Unterlassung) von 
Personen verursacht wird, für welche man ein- 
stehen muß. Hausherren und Auftraggeber sind 
verantwortlich für den Schaden, welchen ihr Haus- 
gesinde und die von ihnen Beauftragten in den 
denselben anvertrauten Geschäften verursacht haben 
(Cont responsables .. les maitres et les 
commettants du dommage causé par leurs 
domestiques et préposés dans les fonctions 
auxquelles ils les ont employés). — Diese 
Grundsätze gelten ganz allgemein, von der Land- 
wirtschaft bis zum Eisenbahnbetrieb. Es haften 
also die maiftres et commettants, worunter alle 
Arbeitgeber einbegriffen sind, nicht nur für eigene 
Schuld, sondern auch allgemein für die Schuld 
ihrer préposés, d. h. aller ihrer Angestellten mit 
Einschluß der gewöhnlichen Arbeiter. Der Ver- 
letzte hat also nur eine Schuld oder Nachlässig- 
keit zu beweisen, sei es des Arbeitgebers, sei es 
eines seiner Arbeiter. Der Arbeitgeber haftet auch 
unbedingt, nicht nur subfidiarisch nach erfolgloser 
Ausklagung des Schuldigen, sondern direkt und 
in erster Linie. Der Arbeiter verliert seinen An- 
spruch nur, wenn ihn selbst eine Schuld trifft, 
während den Unternehmer keine trifft; ebenso, 
wenn der Unfall verursacht ist durch einen Zufall, 
unter den allerdings nach der Praxis auch die 
allgemeine Gefährlichkeit des Betriebes fällt. Die 
Klage verjährt in 30 Jahren. Über den Beweis 
der Schuld und die Höhe des Schadens urteilt 
der Richter nach freiem Ermessen, und erfahrungs- 
mäßig sind die Gerichte gegen die Betriebsherren 
sehr streng. Der Erfolg ist, daß diese nach Art. 
1384 auch in vielen Fällen haften, wo sie selbst 
nicht die geringste Schuld trifft. Diese allgemeinen 
Grundsätze gelten zunächst überall, wo der Code 
civil als solcher gilt, also außer in Frankreich 
noch in Belgien, dann durch Übersetzung oder 
Nachbildung seiner Grundsätze in Holland, den 
romanischen Kantonen im Westen und Süden der 
Schweiz (in den einzelnen mit verschiedenen Ab- 
weichungen) und in Italien. 
Haftpflicht. 
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In Frankreich selbst sind inzwischen die mannig- 
faltigsten Anläufe genommen worden, um zu einer 
besseren Reglung der Frage zu gelangen, welche 
auch in Frankreich infolge der fortschreitenden Ent- 
wicklung der Industrie notwendig geworden ist. 
Dieselben knüpfen teils an das deutsche oder eng- 
lische Haftpflichtgesetz teils an das deutsche Reichs- 
unfallversicherungsgesetz an. Doch kam es bisher 
nur zu einem Gesetz betreffend die Hilfskassen vom 
1. April 1898 und dann zu dem Gesetz vom 
9. April 1898, welches die Haftpflicht des Unter- 
nehmers nach der deutschen Auffassung entwickelt. 
Art. 1 sagt: Die durch die Arbeit selbst oder bei 
Gelegenheit der Arbeit denjenigen Arbeitern und 
Angestellten zugestoßenen Unfälle, welche bei Bau- 
ten, in Fabriken, auf Zimmerplätzen, bei Beför- 
derungsunternehmungen, in öffentlichen Maga- 
zinen, in Gruben, Bergwerken und Steinbrüchen, 
in Betrieben, welche Explosivstoffe verwenden oder 
herstellen oder Maschinen verwenden, beschäftigt 
sind, geben dem Verunglückten das Recht auf Ent- 
schädigung, falls die Arbeitsunterbrechung mehr 
als vier Tage gedauert hat. Die Entschädigung 
hat der Unternehmer zu zahlen. — Mit dem Zu- 
standekommen dieses Gesetzes scheint auch in Frank- 
reich die Hoffnung auf eine allgemeine Unfallver- 
sicherungsgesetzgebung einstweilen aufgegeben wer- 
den zu müssen. Nur für die Bergarbeiter bestehen 
seit 1896 obligatorische Kranken-, Invaliditäts-= 
und Altersversicherung zu Lasten beider Teile. 
d) Belgien hat neben den allgemeinen Grund- 
sätzen des französischen Rechts ein System von 
Schutzvorschriften ausgebildet. Man unterscheidet 
die gewöhnlichen Betriebe von den „gefährlichen, 
ungesunden und unbequemen“ Betrieben. Die 
ersteren sind frei; die letzteren bedürfen nach einer 
königlichen Verordnung vom 29. Jan. 1863 einer 
obrigkeitlichen Genehmigung, welche „von den Be- 
dingungen und Vorbehalten abhängig ist, welche 
im Interesse der öffentlichen Sicherheit, Gesund- 
heit und Bequemlichkeit sowie im Interesse der 
Arbeiter für notwendig erachtet werden“; ebenso 
unterliegen sie einer fortwährenden staatlichen Auf- 
sicht. Für Bergwerke und Steinbrüche bestehen 
noch besondere Vorschriften polizeilicher Natur zur 
Sicherung der Arbeiter und gegenseitiger Hilfe- 
leistung bei Unglücksfällen; ebenso über den Ge- 
brauch bei Dampfkesseln und Dampfmaschinen; 
der letztere ist ebenfalls an eine Genehmigung ge- 
knüpft, die von Sicherheitsbedingungen abhängig 
gemacht wird. Die Übertretung aller dieser Sicher- 
heitsvorschriften macht den Unternehmer haftpflich- 
tig nach den Bestimmungen des Code civil. Da- 
neben hat Belgien das Kassenwesen erheblich aus- 
gestaltet. Es genügt in einem gewissen Maße dem 
Bedürfnis nach Entschädiqung der verunglückten 
Arbeiter, ohne jedoch die Entschädigungspflicht in 
einer sozial befriedigenden Weise zu konstruieren. 
In erster Linie kommen in Betracht die Ver- 
sorgungskassen der Gruben= und Hüttenindustrie, 
dann die Kassen der Eisenbahnarbeiter. Daß diese 
  
 
	        
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