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welcher sich seit längerer Zeit die Gelehrsamkeit
von Generation zu Generation forterbte. Albrecht
von Haller, wegen seiner allseitigen Wissenschaft
von den Zeitgenossen der „Große“ genannt, war
sein Großvater; der Vater, Emanuel, hat die
sehr geschätzte „Bibliothek der Schweizergeschichte"
herausgegeben, und er selbst erwarb sich als Ver-
fasser der „Restauration der Staatswissenschaft"“
einen europäischen Namen. — Karl Ludwig erhielt
eine beschränkte Schulbildung; schon im 16. Alters-
jahre trat er als Sekretär in die Staatskanzlei der
Republik Bern. „Durch den Nichtbesuch der Hoch-
schule“, äußerte er im reiferen Alter, „wurde ich
genötigt, selbst zu forschen, selbst zu denken und
selbst zu arbeiten; auch entging ich dadurch dem
revolutionären, irreligiösen Gifte, welches in mei-
ner Jugend beinahe alle Universitäten verpestete.“
Die Republik Bern übertrug dem jungen Manne
mehrere wichtige Missionen; so wurde er 1792 als
Legationssekretär beim Einfall der französischen
Truppen in Savoyen nach Genf, 1795 nach
Schwaben, 1797 nach Lugano, Mailand, Paris
und sodann an den Kongreß nach Rastatt gesandt
und durch diese Missionen mit General Bona-
parte und vielen Männern, welche später auf dem
Kriegsfelde und in der Diplomatie Hauptrollen
spielten, persönlich bekannt. Als er 1798 von
Rastatt nach der Schweiz zurückkehrte, fiel sein
Vaterland selbst der Revolution anheim. Die alte
schweizerische Eidgenossenschaft unterlag der Über-
macht der französischen Armee, und an ihre Stelle
trat die „Helvetische Republik“. Haller schied aus
dem Staatsdienste und gab unter dem Titel „Hel-
vetische Annalen“ eine Zeitung zur Bekämpfung
der Revolution heraus; allein die helvetische Re-
gierung, obschon sie die Freiheit und Gleichheit
proklamierte, gestattete ihm nicht lange das freie
Wort, und der dreißigjährige Mann verließ das
Vaterland.
Durch Vermittlung Metternichs (Vaters des
Fürsten Staatskanzlers) zuerst zum Sekretär des
Erzherzogs Karl und dann zum Hossekretär des
Kriegsrats in Wien ernannt, hatte er sich vorzugs-
weise mit der politischen Seite der Kriegsfragen
zu beschäftigen. Die Schriften: „Was ist besser,
Krieg oder Frieden mit den Franzosen?“ — „Feld-
zug der Osterreicher nach der Schweiz“ — „Wer
ist der Angreifer, Osterreich oder Frankreich?"“
gingen aus seiner Feder hervor. Neben den amt-
lichen Geschäften befaßte er sich mit politischen
Studien; in Wien (1800/05) begann er über die
Natur der Staaten tiefer nachzudenken, das Wesen
derselben zu erforschen und die Grundsteine zu
seiner staatswissenschaftlichen Theorie zu legen.
Mittlerweile war die helvetische Einheitsregie-
rung in der Schweiz gefallen, Napoleon trat als
Vermittler auf, die Kantone wurden wiederherge-
stellt, und Haller kehrte, als Professor des Rechts
an die neugegründete Akademie in Bern berufen,
in sein Vaterland zurück. Schon in seiner An-
trittsrede behandelte er die „Notwendigkeit einer
Haller.
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andern obersten Begründung des allgemeinen
Staatsrechts“, und während seines achtjährigen
Professorats (1806/14) gab er das „Handbuch
der allgemeinen Staatenkunde“ (1808) heraus, in
welchem er bereits den Grundriß seiner staats-
wissenschaftlichen Theorie niederlegte, und verfaßte
verschiedene Schriften, in welchen er einzelne Punkte
derselben beleuchtete, z. B.: „Über das natürliche
Gesetz, daß der Mächtige herrsche“; „Über Domä-
nen und Regalien“; „Allgemeines philosophisches
Krankenrecht nach dem Grundsatze der Teilung der
Gewalten“; „Politische Religion“ usw.
Das Jahr 1815 brachte Europa und der Schweiz
nach dem Sturze Napoleons I. die Restauration.
Haller wurde zum Mitgliede des „Souveränen
Rats“ und bald darauf des „Geheimen Rats der
Stadt und Republik Bern“ ernannt. In amtlicher
Stellung beschäftigte er sich vorzüglich mit der Re-
vision der Gesetzgebung, indem er die revolutions-
günstigen Bestimmungen aus den Gesetzen auszu-
merzen suchte. Auch erhielt er die wichtige Mission,
das ehemalige Fürstbistum Basel, welches durch
den Wiener Kongreß der Schweiz zugeteilt wurde,
mit Bern zu vereinigen. Unentwegten Rechtssinn
bewährend, gelang es ihm, der katholischen Be-
völkerung dieser Gegend Garantien für die Er-
haltung ihrer Religion von seiten der protestan-
tischen Berner Regierung durch Staatsvertrag zu
verschaffen. In den freien Stunden war er schrift-
stellerisch tätig. Von der Restaurationsepoche nicht
nur den Sturz der Revolution, sondern die Her-
stellung des alten Rechtszustandes in Europa er-
wartend, begrüßte er sie mit leitenden Schriften,
wie z. B.: „Was ist die alte Ordnung?" von
welcher Professor Sartorius in Göttingen sagte,
daß sie mehr Wert habe als ganze Folianten;
„Was sind Untertanenverhältnisse 2“ „Über die
spanischen Cortes“, in denen er gegen das neue
System der Volksvertretung auftrat, usw.
Seine Haupttätigkeit blieb jedoch der Ausarbei-
tung des großen Werkes „Restauration der Staats-
wissenschaft“ gewidmet. Die umfassenden Studien,
welche Haller zu diesem Zwecke machte, hatten für
ihn persönlich eine nachhaltige Wirkung: sie führ-
ten ihn zum Glauben seiner Bäter zurück. Die
Rückkehr zur katholischen Kirche erfolgte im Schlosse
des Herrn von Boccard im Kanton Freiburg 1820;
sie erregte nicht nur in der Schweiz, sondern in
Europa gewaltiges Aufsehen, fand einerseits die
glänzendste Belobung, anderseits die bitterste An-
feindung. Er selbst sprach sich in einem an seine
Familie gerichteten Briefe ausführlich über die
Gründe und die Geschichte seiner Konversion aus.
Der Brief erschien in mehr als 50 Auflagen bei-
nahe in allen Sprachen und wurde selbst wieder
ein Ereignis. Ohne Anklage, ohne Untersuchung,
im Widerspruch mit den Gesetzen wurde Haller
durch einen Mehrheitsbeschluß aus dem Verzeich-
nis der Groß= und Geheimräte der Republik Bern
gestrichen und ihm nicht einmal eine amtliche An-
zeige hiervon erstattet.