Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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Schule könnte also nicht Unterrichtsanstalt sein, 
wenn sie nicht vorher Erziehungsanstalt wäre. 
Ersteres ist durch letzteres notwendig bedingt. Die 
Schule muß es in erster Linie darauf absehen, zu 
erziehen, und gerade zu dem Zweck, um zu er- 
ziehen, muß sie unterrichten. 
5. Schulzwang. Eine Pflicht, ihre Kinder 
in die Schule zu schicken, haben die Eltern an und 
für sich nicht. Wenn letztere in anderer Weise 
für einen hinreichenden Unterricht, wie er für den 
künftigen Beruf erforderlich ist, sorgen können, 
so muß ihnen dies unbenommen bleiben. Sind 
sie aber dazu außerstande, dann kann man sie 
allerdings von der Pflicht, ihre Kinder zu dem 
gedachten Zweck in die Schule zu schicken, nicht 
entbinden. Denn die Kinder haben das Recht auf 
alle jene religiös-sittlichen und weltlichen Kennt- 
nisse, die ihnen dereinst für ihr religiös-sittliches 
und bürgerliches Leben unentbehrlich sind. Aber 
freilich muß es den Eltern zustehen, für ihre Kin- 
der jene Schule auszuwählen, von der sie die ge- 
gründete Überzeugung haben können, daß in ihr 
eine gute christliche Erziehung geboten und daß der 
erziehliche Unterricht darin im Geiste des positiven 
Christentums erteilt wird. Dieses Recht ist in 
dem Erziehungsrecht der Eltern inbegriffen, sowie 
in der ihnen obliegenden Erziehungspflicht; sie 
sind ja vor Gott für die Erziehung ihrer Kinder 
verantwortlich. Ja in Kraft dieser Erziehungs- 
pflicht dürfen christliche Eltern ihre Kinder einer 
Schule gar nicht übergeben, von der sie die ge- 
gründete Uberzeugung haben, daß die Grundsätze 
und der Geist des Christentums in ihr nicht maß- 
gebend sind. 
Hieraus ergibt sich denn nun auch das maß- 
gebende Urteil über den allgemeinen Schul- 
zwang, der darin besteht, daß alle Eltern in 
Kraft eines allgemeinen Gesetzes gezwungen wer- 
den, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Dieser 
allgemeine Schulzwang läßt sich naturrechtlich 
nicht begründen; denn nach natürlichem Recht steht 
es immer den Eltern zu, über die Art und Weise 
zu entscheiden, wie sie ihre Kinder erziehlich unter- 
richten, oder wie sie ihnen den erziehlichen Unter- 
richt erteilen lassen wollen. Daß solches gerade 
auf dem Weg des Schulunterrichts geschehen müsse, 
davon sagt das natürliche Rechtsgesetz nichts. — 
Allein wenn auch der allgemeine Schulzwang sich 
naturrechtlich nicht begründen läßt, so kann man 
doch zugeben, daß er heutzutage im Hinblick auf 
unsere religiösen, bürgerlichen und sozialen Ver- 
hältnisse sich rechtfertigen lasse. Bei unsern mo- 
dernen religiösen Zuständen erscheint es als un- 
umgänglich notwendig, daß die Jugend einen 
gründlichen und methodischen Religionsunterricht 
erhalte, damit sie dadurch gewaffnet werde gegen 
die Angriffe auf ihren Glauben und im christlichen 
Bewußtsein erstarke. Ein solcher gründlicher und 
methodischer Religionsunterricht kann aber wohl 
kaum anders als in der Schule erteilt werden. 
Ebenso bestimmen die Erwerbsumstände zur An- 
Erziehung. 
  
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eignung gewisser grundlegender Kenntnisse, die in 
zweckentsprechender Weise nur in der Schule ge- 
lehrt werden. Dazu kommen unsere gegenwärtigen 
sozialen Verhältnisse. Was würde ohne obligato- 
rischen Schulbesuch aus den Kindern unseres mo- 
dernen Proletariats werden? Nimmt doch schon 
jetzt die Roheit und Sittenlosigkeit in gewissen 
Schichten der Großstädte, ja kleinerer und mittlerer 
Orte eine schreckenerregende Ausdehnung an. 
Was würde erst werden, wenn kein Schulzwang 
bestände! So ist denn dieser tatsächlich heute eine 
Notwendigkeit, der so ziemlich alle Kulturnationen 
oder solche, die es werden wollen, Rechnung ge- 
tragen haben, und zwar durchschnittlich für das 
6. bis 14. Lebensjahr. Unentschuldigtes Fern- 
bleiben vom Unterricht wird bestraft. Keinesfalls 
dürfte den Eltern aber auch zwingend vorge- 
schrieben werden, in welche Schule sie ihre Kinder 
zu schicken haben; denn in solcher Form hebt der 
Schulzwang das elterliche Erziehungsrecht auf, 
und das kann nicht gestattet werden. Der Staats- 
schulzwang, durch den die Eltern gezwungen wer- 
den, ihre Kinder in die Staatsschulen, und nur 
in diese, zu schicken, ist unberechtigt; denn er findet 
sich in direktem Widerspruch mit dem elterlichen 
Erziehungsrecht, das unter jeder Bedingung auf- 
recht erhalten werden muß. 
6. Schule, Kirche und Staat. Eine 
weitere Frage ist die, in welchem Verhältnis die 
Kirche und der Staat zur Schule stehen. Es sei 
vorausgeschickt, daß über die Beziehungen beider 
Machtfaktoren in dieser Hinsicht noch keine Einig- 
keit erzielt ist. In ältester Zeit war die Schule 
ausschließlich eine Einrichtung der Kirche, die ur- 
sprünglich nur religiösen, später auch profanen 
Unterricht bot. Seit dem Beginn der Reforma- 
tion breitete sich die Laisierung des Unterrichts 
immer mehr aus, und zwar zunächst an den höheren 
Schulen und Universitäten. Der Westfälische 
Friede und der Reichsdeputationshauptschluß spra- 
chen die Schule noch der Kirche zu; die moderne 
Gesetzgebung machte sie jedoch mehr oder weniger 
zu einer Staatsanstalt. Daher nimmt heute die 
Staatsregierung für sich und ihre Organe allein 
die Ausübung aller Lehrtätigkeit in Anspruch oder 
läßt doch Privatschulen nur mit ihrer Genehmi- 
gung und unter ihrer Aufsicht zu. 
Dem gegenüber sei nun zunächst festgestellt, daß 
die Schule, da sie nach unsern Ausführungen 
wesentlich Erziehungsanstalt ist, unzweifelhaft der 
Kirche ein Aussichtsrecht einzuräumen hat. Denn: 
1) Die Kirche ist die große Erzieherin des Men- 
schengeschlechts; dazu hat sie von Gott, als dem 
obersten Erzieher, die Sendung erhalten. Folglich 
muf sich auch die Schule, weil wesentlich Erzie- 
hungsanstalt, als natürliches Glied in den großen 
Erziehungsorganismus der Kirche eingliedern. 
2) Die Eltern fungieren in der Erziehung ihrer 
Kinder nach christlicher Ordnung als Organe der 
Kirche, der obersten Erzieherin hienieden. Verhält 
es sich aber so, dann können die Eltern die Er-
	        
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