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und der Theorien von Adam Smith in England.
Sowohl in ihren Ausgangspunkten wie in den
Methoden der Untersuchung und in einzelnen Re-
sultaten voneinander abweichend, treffen beide doch
im wesentlichen in dem antimerkantilistischen Frei-
wirtschaftssystem, dem ökonomischen Individualis-
mus zusammen, der sich in der gesamten Volks-
wirtschaft als die vollste Loslösung des Indivi-
duums von jedem Zwange in der Verfolgung seiner
wirtschaftlichen Absichten, als Prinzip des laissez
faire, laissez (passer) aller, auf dem speziellen
Gebiete des Handels als vollste Handelsfreiheit
(wenngleich bei Smith mit gewissen Modifikatio=
nen betreffs der Zölle) kennzeichnet. Dabei wird
von den Physiokraten die Ackerbauarbeit als die
einzig produktive betrachtet und dem Handel damit
die Existenzberechtigung abgesprochen, während
Smith auch der Handelstätigkeit ihre wirkliche Be-
deutung für die Volkswirtschaft zusprach, indem er
zeigte, daß die vorzüglichste Macht der Produktion
die Arbeit sei.
Die sozialistische Lehre endlich mußte bei ihrer
Anschauung von der körperlichen Arbeit dem Han-
del die Produktivität bestreiten, seine Angehörigen
zu den Drohnen im Bienenstaate rechnen, ihn, wie
das Eigentum als legalen Diebstahl, wegen der
den Kaufmann leitenden Absicht, aus der Preis-
differenz beim Ein= und beim Verkauf Gewinn zu
ziehen, als legalen Betrug bezeichnen und ihn,
wenigstens als Binnenhandel, neben der im sozia-
listischen Staate einzuführenden offiziellen Güter-
verteilung für überflüssig erachten. Auch von an-
derer Seite wird der Handel als überflüssig be-
zeichnet, da die von ihm geleistete Tätigkeit von
den Produzenten direkt geleistet werden könne.
In dem wissenschaftlichen Streite ist sehr häufig
der Fehler begangen worden, den aufgestellten
Prinzipien absolute Tragweite zu geben und das
für alle Zeiten als richtig hinzustellen, was nur
unter den gegebenen Verhältnissen haltbar war.
Der Streit über die Produktivität und Existenz-
berechtigung des Handels kann jetzt für abgetan
gelten; er wäre von vornherein für unfruchtbar
zu erachten gewesen, da an eine Abschaffung des
Handels doch natürlich nicht gedacht werden kann,
es sei denn, daß die Menschheit der ganzen Welt
sich zu einer einzigen großen Wirtschaftsgemein-
schaft zurückbilde, innerhalb deren, ähnlich wie
nach sozialistischer Idee, eine Güterverteilung,
aber kein handelsmäßiger Austausch stattfindet.
Wenn man bei dem vieldeutigen Ausdrucke „pro-
duktiv“ unberechtigterweise nicht bloß an dem
engsten Sinne von „stofferzeugend“ klebt, sondern
ihn in dem allein zulässigen Sinne von „volks-
wirtschaftlich nützlich“ auffaßt, so bestreitet auch
heute kaum jemand mehr ernstlich die „Produkti=
vität“ des Handels; sie liegt in der Arbeitsteilung,
deren Ergebnis er ist und die er seinerseits fort-
setzt. Mag diese ethisch auch noch so sehr verur-
teilt werden, so wird nicht verkannt werden können,
daß sie, vielleicht die wichtigste Erscheinung des
Handel ufw.
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gesellschaftlichen Lebens, „das große Instrument
des Kulturfortschrittes, des größeren Wohlstandes,
der größeren und besseren Arbeitsleistung“ ist.
Im übrigen ist dem Handel auch unmittelbar ein
nicht hoch genug zu veranschlagender Anteil an der
industriellen Produktion zuzuschreiben, insofern er
bei der Vermittlung nicht der bloße willenlose
Handlanger ist, der das ihm Gebotene stillschwei-
gend hinnimmt und auf dem Wege zum Konfu-
menten weiter befördert; er ist vielmehr auch der
feinfühlige Registrator der Bedürfnisse und des
Geschmacks des konsumierenden Publikums sowie
der stets bereite Diener, sie der Produktion gegen-
über zur Geltung zu bringen, und somit in Aus-
übung dieser Funktion für die Gütererzeugung
mitbestimmend.
2. An die Stelle der vorgedachten Erörterungen
über die Produktivität des Handels und der übrigen
Arbeitszweige ist in der heutigen Wissenschaft der
Versuch getreten, diese Tätigkeiten historisch und
statistisch zu erfassen und von da aus den volks-
wirtschaftlichen Problemen näherzukommen.
Nach der Statistik nimmt in der wirtschaftlichen
Tätigkeit des deutschen Volkes die Industrie die
erste Stelle ein, insofern sie die meisten Menschen
versorgt; dann folgt die Landwirtschaft und an
dritter Stelle mit weitem Abstand Handel und
Verkehr; zu letzterem gehören nach der Berufs-
zählung für das Deutsche Reich vom 14. Juni
1895 etwas über ½/10 der Bevölkerung; bei der
Berufszählung von 1882 waren es genau 8,3%;
1895 10,02% ; 1907 11,5% . Löst man die
unter Handel und Verkehr zusammengefaßte Be-
rufsabteilung in die zugehörigen Berufsgruppen
auf, so ergibt sich (Berufszählung von 1907) fol-
gende Tabelle:
Dorunter
Personen rwerbs-
Berufsgruppen überhaupt z im
beruf
Handelsgewere 3 724 347 1739 910
Versicherungsgewerbe 148 805 60 531
Verkehrsgewere 157 872 1026288
Gast= und Schankwirtschaft 1247215 650 897
Summe 8278 239 1 3 477 626
Die 3724347 dem Handelsgewerbe angehörigen
Personen klassifizieren sich wieder nach den oben
Sp. 1034 angegebenen neun Hauptberufsarten.
Do diese Detailergebnisse der Berufszählung von
1907 zur Zeit noch nicht veröffentlicht sind, sei
auf die in der nächsten Zeit erscheinenden Ver-
öffentlichungen des Kaiserl. Statistischen Amtes
verwiesen, insbesondere auf die Vierteljahrshefte
zur Statistik des Deutschen Reiches und das Sta-
tistische Jahrbuch.
3. Auch abgesehen von der großen Zahl der im
Handek beschäftigten Personen muß schon der Wert
der durch den Handel umgesetzten Güter allein
genügen, die hohe Bedeutung und Wichtigkeit des
Handels für die Volkswirtschaft darzutun; sind