Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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und der Theorien von Adam Smith in England. 
Sowohl in ihren Ausgangspunkten wie in den 
Methoden der Untersuchung und in einzelnen Re- 
sultaten voneinander abweichend, treffen beide doch 
im wesentlichen in dem antimerkantilistischen Frei- 
wirtschaftssystem, dem ökonomischen Individualis- 
mus zusammen, der sich in der gesamten Volks- 
wirtschaft als die vollste Loslösung des Indivi- 
duums von jedem Zwange in der Verfolgung seiner 
wirtschaftlichen Absichten, als Prinzip des laissez 
faire, laissez (passer) aller, auf dem speziellen 
Gebiete des Handels als vollste Handelsfreiheit 
(wenngleich bei Smith mit gewissen Modifikatio= 
nen betreffs der Zölle) kennzeichnet. Dabei wird 
von den Physiokraten die Ackerbauarbeit als die 
einzig produktive betrachtet und dem Handel damit 
die Existenzberechtigung abgesprochen, während 
Smith auch der Handelstätigkeit ihre wirkliche Be- 
deutung für die Volkswirtschaft zusprach, indem er 
zeigte, daß die vorzüglichste Macht der Produktion 
die Arbeit sei. 
Die sozialistische Lehre endlich mußte bei ihrer 
Anschauung von der körperlichen Arbeit dem Han- 
del die Produktivität bestreiten, seine Angehörigen 
zu den Drohnen im Bienenstaate rechnen, ihn, wie 
das Eigentum als legalen Diebstahl, wegen der 
den Kaufmann leitenden Absicht, aus der Preis- 
differenz beim Ein= und beim Verkauf Gewinn zu 
ziehen, als legalen Betrug bezeichnen und ihn, 
wenigstens als Binnenhandel, neben der im sozia- 
listischen Staate einzuführenden offiziellen Güter- 
verteilung für überflüssig erachten. Auch von an- 
derer Seite wird der Handel als überflüssig be- 
zeichnet, da die von ihm geleistete Tätigkeit von 
den Produzenten direkt geleistet werden könne. 
In dem wissenschaftlichen Streite ist sehr häufig 
der Fehler begangen worden, den aufgestellten 
Prinzipien absolute Tragweite zu geben und das 
für alle Zeiten als richtig hinzustellen, was nur 
unter den gegebenen Verhältnissen haltbar war. 
Der Streit über die Produktivität und Existenz- 
berechtigung des Handels kann jetzt für abgetan 
gelten; er wäre von vornherein für unfruchtbar 
zu erachten gewesen, da an eine Abschaffung des 
Handels doch natürlich nicht gedacht werden kann, 
es sei denn, daß die Menschheit der ganzen Welt 
sich zu einer einzigen großen Wirtschaftsgemein- 
schaft zurückbilde, innerhalb deren, ähnlich wie 
nach sozialistischer Idee, eine Güterverteilung, 
aber kein handelsmäßiger Austausch stattfindet. 
Wenn man bei dem vieldeutigen Ausdrucke „pro- 
duktiv“ unberechtigterweise nicht bloß an dem 
engsten Sinne von „stofferzeugend“ klebt, sondern 
ihn in dem allein zulässigen Sinne von „volks- 
wirtschaftlich nützlich“ auffaßt, so bestreitet auch 
heute kaum jemand mehr ernstlich die „Produkti= 
vität“ des Handels; sie liegt in der Arbeitsteilung, 
deren Ergebnis er ist und die er seinerseits fort- 
setzt. Mag diese ethisch auch noch so sehr verur- 
teilt werden, so wird nicht verkannt werden können, 
daß sie, vielleicht die wichtigste Erscheinung des 
Handel ufw. 
  
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gesellschaftlichen Lebens, „das große Instrument 
des Kulturfortschrittes, des größeren Wohlstandes, 
der größeren und besseren Arbeitsleistung“ ist. 
Im übrigen ist dem Handel auch unmittelbar ein 
nicht hoch genug zu veranschlagender Anteil an der 
industriellen Produktion zuzuschreiben, insofern er 
bei der Vermittlung nicht der bloße willenlose 
Handlanger ist, der das ihm Gebotene stillschwei- 
gend hinnimmt und auf dem Wege zum Konfu- 
menten weiter befördert; er ist vielmehr auch der 
feinfühlige Registrator der Bedürfnisse und des 
Geschmacks des konsumierenden Publikums sowie 
der stets bereite Diener, sie der Produktion gegen- 
über zur Geltung zu bringen, und somit in Aus- 
übung dieser Funktion für die Gütererzeugung 
mitbestimmend. 
2. An die Stelle der vorgedachten Erörterungen 
über die Produktivität des Handels und der übrigen 
Arbeitszweige ist in der heutigen Wissenschaft der 
Versuch getreten, diese Tätigkeiten historisch und 
statistisch zu erfassen und von da aus den volks- 
wirtschaftlichen Problemen näherzukommen. 
Nach der Statistik nimmt in der wirtschaftlichen 
Tätigkeit des deutschen Volkes die Industrie die 
erste Stelle ein, insofern sie die meisten Menschen 
versorgt; dann folgt die Landwirtschaft und an 
dritter Stelle mit weitem Abstand Handel und 
Verkehr; zu letzterem gehören nach der Berufs- 
zählung für das Deutsche Reich vom 14. Juni 
1895 etwas über ½/10 der Bevölkerung; bei der 
Berufszählung von 1882 waren es genau 8,3%; 
1895 10,02% ; 1907 11,5% . Löst man die 
unter Handel und Verkehr zusammengefaßte Be- 
rufsabteilung in die zugehörigen Berufsgruppen 
auf, so ergibt sich (Berufszählung von 1907) fol- 
gende Tabelle: 
  
  
Dorunter 
Personen rwerbs- 
Berufsgruppen überhaupt z im 
beruf 
Handelsgewere 3 724 347 1739 910 
Versicherungsgewerbe 148 805 60 531 
Verkehrsgewere 157 872 1026288 
Gast= und Schankwirtschaft 1247215 650 897 
Summe 8278 239 1 3 477 626 
  
  
  
Die 3724347 dem Handelsgewerbe angehörigen 
Personen klassifizieren sich wieder nach den oben 
Sp. 1034 angegebenen neun Hauptberufsarten. 
Do diese Detailergebnisse der Berufszählung von 
1907 zur Zeit noch nicht veröffentlicht sind, sei 
auf die in der nächsten Zeit erscheinenden Ver- 
öffentlichungen des Kaiserl. Statistischen Amtes 
verwiesen, insbesondere auf die Vierteljahrshefte 
zur Statistik des Deutschen Reiches und das Sta- 
tistische Jahrbuch. 
3. Auch abgesehen von der großen Zahl der im 
Handek beschäftigten Personen muß schon der Wert 
der durch den Handel umgesetzten Güter allein 
genügen, die hohe Bedeutung und Wichtigkeit des 
Handels für die Volkswirtschaft darzutun; sind
	        
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