Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

1077 
um die Mitte des 17. Jahrh. vorzukommen, ist 
jedenfalls bereits in dem Handelsvertrag zwischen 
England und Portugal von 1642 und dem sog. 
Pyrenäenvertrag von 1659 enthalten und er- 
scheint nun immer häufiger, um seit dem gleich zu 
erwähnenden Cobden-Vertrag geradezu zu dem be- 
herrschenden Prinzip der späteren Handelsverträge 
zu werden. Häufig finden sich Zusicherungen be- 
treffend die gegenseitige Zulassung von Konsuln 
und die Vereinbarung, etwa in Bezug auf den 
Vertrag entstehende Meinungsverschiedenheiten 
durch Schiedsgerichte austragen lassen zu wollen 
u. dgl. Es ist jedoch schon oben bei Besprechung 
der Handelspolitik (s. d. Art. Handel Sp. 1051) 
erwähnt worden, daß die Handelspolitik des 
19. Jahrh. durchaus nicht den geschlossenen ein- 
heitlichen Charakter zeigt wie die der Blütezeit des 
Merkantilismus. Dies macht sich auch in dem Ab- 
schluß von Handelsverträgen bemerkbar. 
Ein ganz neuer Zug kam in die Vertragspolitik 
der europäischen Staaten, als mit Beginn der 
Cobden-Gladstoneschen Epoche in England (1860, 
s. d. Art. Handel Sp. 1051) ein englisch-fran- 
zösischer Handelsvertrag zustande kam. Die Be- 
deutung dieses wirklich epochemachenden (Cobden- 
Vertrags liegt weniger darin, daß für die beiden 
vertragschließenden Staaten ein neues, auf frei- 
händlerische Grundlage gestelltes Verhältnis ge- 
schaffen wurde, als vielmehr darin, daß er der 
Ausgangspunkt für ein vollständiges System, 
das der westeuropäischen Handelsverträge, wurde. 
In den folgenden Jahren schlossen nämlich die 
Vertragsstaaten mit den meisten europäischen 
Staaten und diese wiederum unter sich Verträge, 
und indem darin mit den Vertrags-(Konventions-) 
Tarifen die Meistbegünstigungsklausel auch zu- 
gunsten dritter Mächte verbunden war, kam die 
Begünstigung, die ein Staat dem andern gewährte, 
mittelbar allen Vertragsstaaten zugute, während 
nach außen die Generaltarife wirkten. In den 
1870er Jahren lief die erste Gültigkeitsperiode 
dieser Verträge ab, und die weitere Entwicklung 
auf der bisherigen Linie geriet ins Stocken, in- 
dem einzelne Verträge gar nicht wieder, andere 
nur als Meistbegünstigungsverträge geschlossen 
wurden. 
Mit dem Jahre 1892 beginnt wieder eine neue 
Epoche der Handelsverträge, und zwar die des 
Systems der mitteleuropäischen Handelsverträge. 
Deutschland und Frankreich standen zufolge Art. 11 
des Frankfurter Friedens von 1871 in ihren Han- 
delsbeziehungen untereinander in dem Verhältnis 
der meistbegünstigten Nationen. Diese Abrede war 
in Frankreich sehr ungünstig ausgenommen wor- 
den. Unter der Nachwirkung dieser Stimmung 
sowie des Umstandes, daß die Klausel nicht ge- 
kündigt werden kann (s. Nr. III), und unter 
Hinzutritt schutzzöllnerischer Strömungen stellte 
Frankreich im Jahre 1881 einen neuen Zolltarif 
mit immerhin vorwiegend mäßigen Schutzzöllen 
auf und schloß auf seiner Grundlage eine Reihe 
— 
Handelsverträge. 
  
1078 
neuer Verträge mit Zollbindung. Deutschland, 
welches seit 1879 zur autonomen Handelspolitik 
zurückgekehrt war und nur mehr bloße Meist- 
begünstigungsverträge in dieser Periode verein- 
barte, zog infolgedessen den indirekten Vorteil, 
selbst seinen Tarif frei ändern zu können, bei seinen 
Hauptabsatzgebieten aber vor Zollerhöhungen 
einigermaßen geschützt zu sein. Dieser Umstand 
gab der Abneigung gegen jene Meistbegünstigungs- 
klausel neue Nahrung und ist neben der stetig 
wachsenden schutzzöllnerischen Richtung der ihren 
Zusammenschluß bewirkenden Industrie und Land- 
wirtschaft der hauptsächlichste Grund gewesen, 
weswegen Frankreich alle seine Verträge auf den 
1. Febr. 1892 kündigte und durch Gesetz vom 
11. Febr. 1892 einen autonomen Doppeltarif, 
Maximal= und Minimaltarif, begründete, welch 
letzteren es denjenigen Staaten bietet, die ihm das 
Meistbegünstigungsrecht gewähren. Diesen Zeit- 
punkt benutzte Deutschland, um zunächst 1892 
mit Osterreich-Ungarn, Italien, Belgien und der 
Schweiz jenes Handelsvertragssystem zu begrün- 
den, dem sich 1893 noch Serbien und Rumänien, 
1894 Rußland, 1896 Bulgarien anschlossen. 
Deutschland verfolgte „eine auf vertragsmäßiger 
Grundlage beruhende gemäßigte Handelspolitik“, 
wobei man „von dem Übergange zum extremen 
Protektionismus Abstand genommen“. Diese ge- 
meinsame Tendenz wird in derselben Weise, wie 
es das westeuropäische System getan, mittels 
General= und Konventionaltarifen durchgeführt. 
Unter dem 25. Dez. 1902 hat sich Deutsch- 
land einen neuen Zolltarif gegeben, der gegen 
früher abweichende Sätze und eine andere Gliede- 
rung seiner Positionen enthält. Er ist ein Ein- 
heitstarif und zieht nur für Getreide dem vertrags- 
mäßigen Herabgehen von diesen Sätzen durch 
Festsetzung von Mindestzöllen eine Grenze. Auf 
Grund der Verordnung vom 25. Febr. 1905 ist 
er am 1. März 1906 in Kraft getreten. Er bil- 
det die neue Grundlage, auf der die vorgenannten 
Handelsverträge, die alle mit dem Ende des Jahres 
1906 abliefen, in den Jahren 1904 und 1905 
mit gewissen Abänderungen und Ergänzungen 
bis zum 31. Dez. 1917 verlängert wurden; nur 
de Vertrag mit Bulgarien läuft bis zum 28. Febr. 
1911. 
Auf die weiteren Bestrebungen Englands, mit 
seinen Kolonien, und der Vereinigten Staaten 
von Amerika, mit den übrigen amerikanischen 
Staaten zu einheitlichen handelspolitischen Sy- 
stemen sich zusammenzuschließen, ist in dem Art. 
Handel hingewiesen. Bisher haben dieselben nur 
teilweisen Erfolg gehabt. 
III. Handeksverträge und Farifantono- 
mie. Kein einziger Kulturstaat der heutigen Zeit ist 
in der Lage, allen in seinen Grenzen auftauchenden 
volkswirtschaftlichen Bedürfnissen aus eigenen Mit- 
teln zu genügen; ein jeder ist vielmehr schon allein 
aus wirtschaftlichen Gründen in die Zwangslage 
versetzt, gestatten zu müssen, daß seine und die
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.