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Die Weiter= und Vollentwicklung des Hand-
werks fällt mit der Städtegründung und -blüte
zusammen. Die Karolingerzeit kannte die Stadt
in dem späteren verwaltungsrechtlichen und öko-
nomischen Sinne noch nicht. Der Handel der
Merowinger= und Karolingerzeit war vielmehr
Wandergewerbe und lag in den Händen stamm-
fremder Kaufleute, war also international. Mit
dem zunehmenden Verkehr entwickelte sich jedoch
nicht nur diese Art des Marktverkehrs, sondern
auch der Lokalmarkt. Die zunehmende Volksdichtig-
keit fördert stetig einen grundbesitzlosen Nachwuchs,
der teils aus freien Besitzlosen teils aus Fron-
arbeitern besteht, welche neben der Sorge für die
grundherrlichen Bedürfnisse auch für den Absatz
zu produzieren beginnen und damit den Nach-
wuchs für das freie Gewerbe, das Handwerk, ab-
geben.
Mit der Produktion auf Absatz — für andere
— war das Bedürfnis nach dem Lokalmarkte,
eines der Vorstadien zur Gründung der Stadt,
gegeben. Ein weiteres Vorstadium hierfür lag
in militärischen Rücksichten. Die Befestigung
der deutschen Grenzen gegen die Ungarn führt
unter Heinrich dem Finkler zur Errichtung von
Burgen, d. h. von Ringwällen, wo bald Ansied-
lungen stattfinden. Die natürlichen Besiedler sind
die überschüssigen freien und unfreien Besitzlosen,
vornehmlich die Handwerker usw. Sie siedeln sich
nach und nach teils mit teils ohne Einwilligung des
Grundherrn in den Burgen, aus welch letzteren sich
die Städte entwickeln, an. Viele bleiben zwar den
Grundherren noch tributär, aber mit Erstarkung
der Städte gilt der Rechtsgrundsatz: „Stadtluft
macht frei“, und damit wird die Landflucht ge-
fördert. Am Schlusse des 13. Jahrh. waren die
leibeigenen Handwerker in Deutschland verschwun-
den, und die überwiegende Mehrzahl der Hand-
werker waren in den Städten angesiedelt. Hier,
in der freien Atmosphäre der Stadt konnte sich
das Handwerk erst entwickeln, und gar bald tritt
auch die ökonomische Arbeitsteilung ein. Mit dem
Städtewesen emporsteigend und mit ihm eng ver-
knüpft, fällt die größte Blüte des Handwerks in
die Periode der Städtewirtschaft, vom 12. bis
15. Jahrh., jedoch örtlich verschieden.
Das städtische Handwerk des Mittelalters kenn-
zeichnet sich dadurch, einmal daß es Kunden-
produktion ist — die Produktion findet nur für
einen lokalen Kundenkreis statt —, sodann da-
durch, daß es mit einer traditionellen Technik
produziert, wie sie ihm von den Vorfahren über-
kommen ist. Diese Technik ist eine wesentlich ma-
nuelle und fördert die technische und persönliche
Geschicklichkeit des Handarbeiters. Der technische
Fortschritt vollzieht sich so, daß sich neue Berufe
abspalten. Die Arbeitsteilung entwickelt sich auf
der Basis des Kleinbetriebes; sie führt fortwäh-
rend zu einer Vermehrung der selbständigen Hand-
werker und Gewerbetreibenden (s. M. Weber und
E. Michael).
Handwerk.
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Im Interesse der Freiheit und zum Zwecke
der Erhaltung derselben entsteht sodann, wie
M. Weber (ungedruckte Vorlesungen) prägnant
ausführt, diejenige Verkehrsgliederung, welche
dem Mittelalter eigentümlich ist. Man würde die
für die Entwicklung des Handwerks nötige Be-
wegungsfreiheit nicht erhalten haben, wenn —
wie heute — eine absolute Freiheit des Konkurrenz-
kampfes bestanden hätte. Das Ziel der mittel-
alterlichen Wirtschaftspolitik mußte
daher notwendigerweise Ausschluß des Kon-
kurrenzkampfes im Interesse gleich-
mäßiger Erhaltung aller Gewerbe-
treibenden sein. — Man kann jedach die
Weiterentwicklung des Handwerks nicht behan-
deln, ohne die Zunft und ihre Politik zu streifen.
Der Werdegang des Handwerks, sein Blühen und
Absterben ist mit ihr so eng verquickt und durch
sie so sehr bedingt, daß das eine ohne das andere
nicht klargelegt werden kann (s. d. Art. Innung).
Dort wo die Zünfte entstanden (in Frankreich,
Italien, England und in Deutschland, namentlich
am Rhein), sind sie aus den alten Schutzgilden
hervorgegangen und verfolgen gleiche Ziele wie
diese. Die Politik der Zünfte, auf die es hier
namentlich ankommt, hat verschiedentlich ge-
wechselt und unter folgenden Gesichtspunkten ge-
standen: 1) einmal unter dem der Aufrecht-
erhaltung der Gleichheit unter den
Mitgliedern der Zunft. Aufgebaut auf
der Gleichberechtigung aller ihrer Angehörigen hat
sie als obersten Grundsatz den altgermanischen
Grundgedanken: Aufrechterhaltung der ökonomi-
schen Chancen aller. Daraus leitet sie die Regu-
lierung der Produktion ihrer Genossen ab und
trifft Bestimmungen nicht nur bezüglich der Tech-
nik, welche diese anwenden dürfen, welche Mittel
und Erfindungen bei der Produktion zugelassen
werden, sondern auch bezüglich der Qualität und
des Preises des Produktes. Damit kein unlauterer
Wettbewerb entstehe, setzt die Zunft die Qualität
des Produktes und den Preis desselben fest. Ferner
reguliert sie die Größe und den Umfang des Be-
triebes des einzelnen. Bis in das 18. Jahrh. hinein
findet man Bestimmungen über die zulässige Zahl
der Gehilfen (gewöhnlich sind höchstens zwei Ge-
sellen bei einem Meister zugelassen). Auch ergehen
Verbote der Assoziation, besonders mit Leuten,
die außerhalb der Zunft stehen. Der Zunftmeister
darf zur Erweiterung seines Betriebes kein Geld
von Koapitalisten leihen. — Alle diese Maßnahmen
bezwecken künstliche Erhaltung des handwerks-
mäßigen Kleinbetriebes und der gleichen Chancen
der Produktion für alle Genossen.
Ein weiterer Gesichtspunkt ist nach M. Weber
2) die Monopolisierung des Erwerbs-
lebens. Hierbei machen sich drei Perioden bemerk-
bar. Die erste Periode fällt in die Zeit der Ent-
stehung der Zünfte. Als die Bevölkerung noch dünn
war, ergab sich reichliche Erwerbsgelegenheit; es
herrschte absolute Gewerbefreiheit. Die Zunft hatte