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Konkurrenzkampf mit der Fabrik zu bestehen.
Hier macht der gesamte Stand eine rückläufige
Bewegung und hat eine schleichende Krisis zu be-
stehen. Nach Retzbach hat von 1882 bis 1895
die Zahl der selbständigen Meister relativ um
19,2 % abgenommen. Für verschiedene Hand-
werke ist der Rückgang aber unaufhaltsam, und
ihre Angliederung an die Fabrik unvermeidlich;
indessen bleibt zu berücksichtigen, daß ein Teil
dieser zugrunde gegangenen selbständigen Exi-
stenzen in der Fabrik ein besseres Auskommen findet
denn als selbständige Meister, und ferner, daß
sich neue Handwerke herausbilden. Anderseits
ist heute ein Emporsteigen des Meisters zum
Unternehmer in keiner Weise ausgeschlossen. Im
Gegenteil, die Gelegenheit ist unter der Ge-
werbefreiheit günstiger als zuvor unter zünft-
lerischer Verfassung.
Um die Wirkungen des Gesetzes vom
26. Juli 1897 auf die Handwerke und ihre Betriebe
festzustellen, veranstaltete die deutsche Reichsregie-
rung auf Veranlassung des Reichstags im An-
fange des Jahres 1905 eine große statistische Er-
hebung. Es handelte sich dabei nicht lediglich um
die zahlenmäßige Ermittlung der im Reiche be-
stehenden freien Innungen, Zwangsinnungen,
Innungsausschüsse und Innungsverbände sowie
der Mitglieder dieser Organisationen, sondern
auch darum, soweit es auf statistischem Wege
möglich ist, einen Uberblick darüber zu gewinnen,
in welchem Umfange die einzelnen Organisationen
bestrebt waren, die ihnen durch das Gesetz obli-
gatorisch oder fakultativ zugewiesenen Aufgaben
zu erfüllen, welche besonderen Einrichtungen sie
hierüber getroffen hatten und welche Aufwen-
dungen für dieselben gemacht waren. Diese Er-
hebungen ergaben folgende Resultate:
Im Anfange des Jahres 1905 bestanden 3164
Zwangsinnungen mit 218 568 Mitgliedern und
8147 freie Innungen mit 270 232 Mitgliedern,
zusammen 11 311 Innungen mit 488 700 Mit-
gliedern, oder auf je 10000 Einwohner in Deutsch-
land 82,2 Innungsmitglieder. Durch eine nach-
trägliche, in der Denkschrift noch berücksichtigte
Erhebung über die Tätigkeit der Handwerks-
kammern nach dem Stande vom 31. Okt. 1907
wurde festgestellt, daß sich unterdessen die Zahl
der freien Innungen um 4,8 % und die ihrer Mit-
glieder um 7,1%, die Zahl der Zwangsinnungen
um 8,4 % und die ihrer Mitglieder um 2,2%
vermehrt hat. Der größte Teil der Zwangs-
innungen (1921) wurde im Jahre 1891, also
kurz nach Inkrafttreten des Handwerkergesetzes,
errichtet, was darauf zurückzuführen ist, daß damals
viele freie, nicht lebensfähige Innungen sich in
Zwangsinnungen umwandelten. Vom Jahre 1899
ab nimmt die Zahl der jährlich neu errich-
teten Zwangsinnungen verhältnismäßig ab, am
stärksten von 1899 bis 1904 (von 60,7 % auf
4,1% („Erhebung über die Wirkungen des Hand-
werkergesetzes“ S. 38). — Die Zwangsinnungen
Handwerk.
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betragen 28% aller Innungen, dagegen sind nur
44,7 % aller selbständigen Meister freien
Innungen angeschlossen; über die Hälfte ist
also bis heute noch nicht organisiert. Von allen In-
nungen waren 6356 = 56,2 % Fachinnungen mit
292982 Mitgliedern, 3607= 31,9% Innungen
verwandter Gewerbe mit 138773 Mitgliedern
und 1348 = 11,9 % gemischte Innungen mit
56 945 Mitgliedern. — Die meisten Innun-
gen — 54,6% haben 1 bis 29 Mitglieder,
22,5 % 30 bis 49 Mitglieder, nur 6,8 %
über 100 Mitglieder. — Die meisten Innungen
und die Hoöchstzahl ihrer Mitglieder waren in
den Kleinstädten zu finden, in Großstädten nur
etwa 6%. Die Zahl der Innungen ist in
Norddeutschland erheblich größer als in Süd-
deutschland, wo die Gewerbevereine in weitem
Umfange die Vertretung der Handwerker über-
nommen haben; sie beträgt für Norddeutschland
2980 freie und 7653 Zwangsinnungen mit zu-
sammen 447704 Mitgliedern gegen nur 184
freie und 494 Zwangsinnungen mit 40 996 Mit-
gliedern in Süddeutschland. In Preußen
einschließlich Hohenzollern waren 1900 allein
677 114 selbständige Handwerker vorhanden,
wovon in Innungen 338 173 oder 49,9%
organisiert waren.
Die Denkschrift enthält auch eine eingehende
Darstellung des Innungslebens. Sie zeigt die
verschiedenen Arten der Mitglieder, aus denen sich
die Innungen zusammensetzen, behandelt die Vor-
standssitzungen der Innungen, die Innungsver-
sammlungen, die Innungsschiedsgerichte und
Einigungsämter, die Hilfspersonen (Gesellen und
Lehrlinge) und ihre Tätigkeit, insbesondere die
Reglung des Lehrlingswesens; sie schildert die
Tätigkeit der Innungen auf dem Gebiete des
Schulwesens, des Arbeitsnachweises, der Herber-
gen, der Innungskranken= und -unterstützungs-
kassen und sonstiger gemeinnütziger Veranstal-
tungen; sie behandelt die Beteiligung der In-
nungen an Submissionen, die Bestellung von Be-
auftragten, die Beschränkung der Mitglieder in der
Festsetzung ihrer Preise usw., sowie die gesamten
wirtschaftlichen Verhältnisse der Innungen: Ein-
nahmen und Ausgaben, Vermögen, Eintritts-
gelder, Mitgliederbeiträge, gemeinschaftliche Ge-
schäftsbetriebe, Fonds und Stiftungen u. a.
Aus allem geht hervor, daß die Organisation
des Handwerks, obgleich mehr als die Hälfte der
selbständigen Handwerker noch nicht organisiert
ist, seit Erlaß des Gesetzes von 1897 erhebliche
Fortschritte gemacht hat und daß in den Innungen
wieder reicheres Leben herrscht. Die Zwangs-
innungen haben sich zum Teil bewährt und viel-
fach eine größere Wirksamkeit als die freien In-
nungen entfaltet, wenn anderseits auch aus der
Vergleichung der Anzahl der bestehenden freien
und Zwangsinnungen der Schluß gezogen wer-
den kann, daß die Form der Zwangsinnung sich
nicht für alle Gegenden und alle Gewerbe eignet.