Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

1115 
Eine noch weitergehende Form der Abhängig- 
keit bildet es, wenn der Verleger nicht bloß den 
Rohstoff liefert, sondern auch Eigentümer der vor- 
züglichsten Werkzeuge ist, namentlich der Maschi- 
nen, die im häuslichen Kleinbetriebe verwendbar 
sind. So ist es eine nicht seltene Erscheinung, daß 
Webstuhl, Stickmaschine, Nähmaschine dem Ver- 
leger gehören, für die der Arbeiter einen Mietzins 
zu entrichten hat. — Die Steigerung der Ab- 
hängigkeit, die in diesen drei Arten von Haus- 
industrie wahrzunehmen ist, bedeutet indes bei 
weitem nicht immer eine Verschlechterung der 
wirtschaftlichen Lage, die meist auch noch durch 
andere Momente bestimmt wird. 
2. Ein ganz eigen geartetes Abhängigkeitsver- 
hältnis bildet sich, sobald zwischen Verleger und 
Heimarbeiter noch eine dritte Person sich einschiebt, 
der Zwischenmeister oder Faktor. Wir 
unterscheiden unter diesem neuen Gesichtspunkte 
solche Hausindustrielle, welche direkt vom Unter- 
nehmer beschäftigt werden, und solche, denen der 
Zwischenmeister die Arbeit vermittelt. 
Der Zwischenmeister hat die vom Verleger 
empfangenen Aufträge unter die Arbeiter zu ver- 
teilen, die fertigen Produkte zu sammeln und den 
Lohn auszuzahlen, für pünktliche Ablieferung und 
gute Qualität der Erzeugnisse zu sorgen. In 
vielen Fällen hat er sich zu einer selbständigen 
Stellung emporgeschwungen, beschäftigt auf eigene 
Rechnung Heimarbeiter, denen er Rohstoffe und 
Arbeitsaufträge zuteilt, und deren Arbeitsprodukte 
er in bedeutenden Massen an den Verleger ab- 
liefert. Er nimmt alsdann eine Stellung als 
Zwischenverleger, als teils selbständiger teils un- 
selbständiger Unternehmer ein. 
Der Verleger kann, je mehr sein Großbetrieb 
durch die Hausindustrie dezentralisiert ist, des 
Zwischenmeisters nicht gut entraten. Für den 
Heimarbeiter ist aber das Dazwischentreten einer 
neuen Person durchaus nicht vorteilhaft. Denn 
jetzt will von dem Arbeitsprodukt nicht bloß der 
Heimarbeiter und der Verleger, sondern auch der 
vermittelnde Faktor einen Gewinn erzielen, wes- 
halb der Gewinnanteil des Arbeiters immer tiefer 
herabsinken muß. Die allgemeine Abneigung der 
Heimarbeiter gegen die Zwischenmeister ist daher 
wohl erklärlich. 
3. Die Existenzdes Zwischenhandelshat mancher- 
orts zu einer besonders gearteten Organisations-= 
form der Hausindustrie geführt, zur hausindu- 
striellen Werkstatt. Mehrere Arbeiter oder 
Arbeiterinnen sind in einem Arbeitsraume, einer 
Werkstatt nach Anweisung und gegen Lohnzahlung 
des Zwischenmeisters tätig, der Inhaber oder 
wenigstens Mieter der Werkstatt ist. Dieser 
Zwischenmeister seinerseits aber arbeitet und läßt 
arbeiten nur auf Bestellung des Verlegers, von dem 
er auch meist Rohstoffe und Zutaten empfängt, 
während er selbst gewöhnlich die nötigen kleinen 
Maschinen in seiner Werkstatt aufstellt und die 
  
Hausindustrie. 
  
übrigen Handwerkszeuge für sich und seine Arbeiter 
1116 
bereithält. Der Werkstätteninhaber nimmt eine 
Doppelstellung ein. Er ist Lohnarbeiter seinem Ver- 
leger gegenüber, wird aber teilweise selbständiger 
Arbeitgeber seinen Hilfskräften gegenüber. Der- 
artige Werkstättenbetriebe trifft man zahlreich an 
in der Berliner Konfektion. Vor allem aber ist in 
England diese Organisationsform seit langer Zeit 
verbreitet und erhielt hier den berüchtigten Namen 
Sweating system (Schwitzsystem). Der In- 
haber einer hausindustriellen Werkstätte heißt hier 
sweater (Schwitzmeister) und wird von Sombart 
geschildert als „derjenige, der unmittelbar Män- 
ner, Weiber und Kinder im Lohne hat, um die 
Arbeit auszuführen, und der hofft, aus deren 
Schweiß (by sweating) Gewinn herauszuschla- 
gen“. Der Schwitzmeister füllt im allgemeinen 
mit großer Leichtigkeit seine Werkstätten, was 
seinen Grund hat in dem übermäßigen Angebot 
von elenden Arbeitskräften, welche das in die 
Großstadt eingewanderte Hungerproletariat dar- 
bietet, in der Hilflosigkeit, in der sich diese der 
Landessprache oft unkundige und gar nicht organi- 
sierte Bevölkerungsschicht befindet. Das Schwitz- 
spstem hat eine ungeheure Ausbeutung mensch- 
licher Arbeitskraft und eine gewaltige Summe von 
wirtschaftlichen und sozialem Elend verschuldet. 
Der hausindustriellen Werkstattarbeit, in der 
die Beschäftigten unter sich sozial differenziert sind, 
stehen die vereinzelt arbeitenden Heimarbeiter 
gegenüber, die unter sich sozial homogen sind und 
zerstreut in ihren Wohnungen allein oder höchstens 
mit Hilfe ihrer Familienangehörigen im Dienste 
des Verlegers tätig sind. An dieser Form der 
Heimarbeit wird nichts geändert, mag der Heim- 
arbeiter direkt mit dem Verleger verhandeln, wie 
zahlreiche Näherinnen in Berlin sich unmittelbar 
vom Konfektionsgeschäft ihre Arbeit holen, oder 
mag er vom Faktor Bestellung und Entlöh- 
nung empfangen, wie die schlesischen Weber von 
dem im nahen Städtchen seßhaften Faktor. — 
Den Heimarbeitern, insofern sie der hausindu- 
striellen Werkstatt gegenübergestellt werden, können 
auch die Platzgesellen zugezählt werden, d. h. solche, 
die weder in der eigenen Behausung noch bei einem 
hausindustriellen Werkstattmeister arbeiten, son- 
dern, im Dienst eines Verlegers oder Zwischen- 
meisters stehend, bei einem Dritten sich einen Platz 
zur Arbeit gemietet haben. 
Wir hätten demnach zu unterscheiden: a) haus- 
industrielle Werkstattinhaber, b) hausindustrielle 
Werkstattgehilfen, c) alleinstehende Heimarbeiter. 
4. Die deutsche Gesetzgebung macht auch einen 
Unterschied zwischen Hausgewerbetreibenden 
und Heimarbeitern. Beide Gruppen arbeiten 
für einen Verleger und sind insofern wirtschaftlich 
abhängig. Der Hausgewerbetreibende ist aber per- 
sönlich selbständig, weil für ihn kein fester Vertrag 
und keine Kündigungefrist besteht, weil er von 
verschiedenen Seiten Aufträge entgegennimmt usw. 
Der Heimarbeiter ist in der Regel vom Arbeit- 
geber persönlich abhängig, weil dieser gegen ihn
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.