Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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baren Heimarbeiter häufig noch dazu, sich gegen- 
seitig nach Kräften zu unterbieten. 
Alle diese Ursachen zusammengenommen be- 
wirken, daß die Lohnverhältnisse der Heimarbeiter 
in der Regel ungünstige sind. Nicht einmal Las- 
salles ehernes Lohngesetz gibt für die Gestaltung 
der Heimarbeitslöhne die richtige Formel ab. Der 
Lohn bleibt hier nicht auf den notwendigen Le- 
bensunterhalt beschränkt, der gewohnheitsmäßig 
zur Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung 
erforderlich ist. Der Heimarbeitslohn gravitiert 
nicht um diesen Punkt jederzeit herum, ohne sich 
dauernd über ihn zu erheben oder unter ihn be- 
deutend herabzufallen. Er hat nach den heute die 
Heimarbeitslöhne bestimmenden Verhältnissen die 
Tendenz, dauernd unter jenen Punkt herabzu- 
sinken. 
Besonders niedrige Löhne wurden beobachtet 
in der Hausweberei, in der Konfektion und in der 
Spielwarenfabrikation. Wenn nun auch anzuer- 
kennen ist, daß viele Heimarbeiter, zumal die ge- 
lernten, durchaus zufriedenstellende Löhne erhalten, 
so kann doch für die breite Masse der Heimarbeiter- 
schaft gelten, daß ihre Löhne „zu wenig zum Leben 
und zuviel zum Sterben bieten“. 
Eine Wirkung der geringen Entlöhnung ist die 
übermäßige Arbeitsdauer. Die Arbeitszeit ist ein 
Moment in der Beschäftigung des Heimarbeiters, 
über das er frei verfügt, das er beliebig einschränken 
und ausdehnen kann, um das Ungünstige der Lohn- 
verhältnisse einigermaßen auszugleichen. So ist 
nachgewiesenermaßen die tägliche Arbeitszeit zu- 
weilen auf 17, ja 19 Stunden ausgedehnt. Sol- 
ches Ubermaß wird vor allem beobachtet in den 
sog. Saisonindustrien, die in gewissen Zeiten die 
höchsten Anforderungen an die Arbeitskräfte stellen, 
um sie die übrigen Monate des Jahres beschäf- 
tigungslos zu lassen (z. B. die Industrien für 
Damenmodeartikel, für Weihnachtsbaumschmuck). 
Die Saisonindustrien bauen sich aber mit Vor- 
liebe auf Heimarbeit auf; das in einem Fabrik- 
betriebe dauernd investierte Kapital ließe es vom 
geschäftlichen Standpunkte als unrichtig erscheinen, 
den Betrieb längere Zeit im Jahre ruhen zu lassen; 
dies gestattet nur der mit ganz geringem Kapital 
arbeitende Verlagsbetrieb. 
Das geringe Arbeitseinkommen hat viele groß- 
städtische Heimarbeiter dazu verleitet, an der Woh- 
nung zu sparen. Den Übelstand, daß die Woh- 
nungen zu klein sind und den hygienischen For- 
derungen an Rauminhalt nicht entsprechen, teilen 
nun zwar die Heimarbeiter mit den kleinen Leuten 
in der Großstadt überhaupt; aber hier kommt noch 
der weitere Mißstand hinzu, daß im selben Raume 
gewohnt und gearbeitet wird, daß vielfach die 
Ausdünstungen der zu bearbeitenden Roh= und 
Hilfsstoffe, die während des Arbeitsprozesses er- 
folgenden Staubabsonderungen die Luft in den 
ohnehin mit Menschen dicht angefüllten Woh- 
nungen nicht bloß unerträglich, sondern auch höchst 
gesundheitswidrig machen. Die nachteiligen Ein- 
Hausindustrie. 
  
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flüsse unhygienischer Wohmungen im Zusammen- 
hang mit Überanstrengung und Unterernährung 
untergraben in zahlreichen Fällen die Gesundheit 
der Heimarbeiter und der heranwachsenden Gene- 
ration. 
Mit den mangelhaften Wohnungsverhältnissen 
hängt noch eine Gefahr für weitere Kreise zusam- 
men: die Ubertragung ansteckender Krankheiten auf 
das konsumierende Publikum durch Heimarbeits- 
produkte. Masern, Scharlach, Diphtherie, Tuber= 
kulose, Influenza, Typhus, Ruhr, Syphilis sind 
(nach Professor Sommerfeld) die Krankheiten, die 
aus den engen Heimarbeiterwohnungen durch die 
hier gefertigten Produkte leicht verschleppt werden 
können. 
Der Zusammenhang zwischen Heimarbeit und 
Prostitution hinsichtlich der großstädtischen Heim- 
arbeiterinnen ist nicht aufgeklärt. Wenn auch die 
amtlichen Berichte weniger ungünstig lauten als 
die privaten Ermittlungen hierüber, so lassen doch 
die elenden Löhne, der Mangel an sittlichem Ur- 
teil, die Putzsucht, die schlechten Wohnungsver- 
hältnisse bei zahlreichen Heimarbeiterinnen in der 
Großstadt die Gefahr der Prostitution mit großer 
Wahrscheinlichkeit vermuten. 
VI. Die Reform der Hausindustrieverhält- 
nisse ist wesentlich abhängig von der Beantwortung 
der Frage, inwieweit überhaupt die Hausindustrie 
innerhalb unserer heutigen Volkswirtschaft existenz- 
fähig und würdig ist, erhalten zu werden. Zahl- 
reiche ältere Nationalökonomen, die ausschließlich 
die ländlichen, aus bäuerlichem Hausfleiß und teil- 
weise auch aus dem Handwerk hervorgegangenen 
Hausindustrien im Auge hatten, redeten einer 
künstlichen Erhaltung dieser Betriebsform das 
Wort. Aber seitdem die schweren der Hausindu- 
strie durchweg anhaftenden Mißstände gründlicher 
erforscht wurden, findet jene Ansicht kaum noch 
Anhänger. In das entgegengesetzte Extrem sind 
radikale Sozialpolitiker, z. B. zahlreiche Sozial- 
demokraten, verfallen, die völlige Abschaffung 
der Heimarbeit, eine Überführung der sämtlichen 
Heimarbeit in die Fabrik fordern. Nun ist freilich 
zuzugeben, daß die Fabrik im allgemeinen der 
Hausindustrie gegenüber eine höhere Betriebsform 
darstellt, die nicht bloß in technischer, sondern auch 
in sozialer Hinsicht entschiedene Vorzüge hat, in- 
sofern sie durchweg ihren Arbeitern höhere Löhne, 
eine geregelte Arbeitszeit und ununterbrochene Be- 
schäftigung bietet. Die Errichtung von Fabriken 
in ländlichen, zu relativer Ubervölkerung neigen- 
den Gegenden, z. B. in den Webergegenden, würde 
vielen jetzt hausindustriell beschäftigten Arbeits- 
kräften eine bessere Arbeit und ein höheres Ein- 
kommen bringen. Eine Voraussetzung zur In- 
dustrialisierung ländlicher Gegenden würde die 
Verkehrserleichterung, vor allem der Bau von 
Bahnen sein, weshalb man den Bahnbauten auf 
dem Lande als Wirkung eine indirekte Beseitigung 
der Hausindustrie zuschreiben kann. — Eine andere 
indirekte Beseitigung oder doch Beschränkung der
	        
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