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tun müssen“ —, obwohl anzuerkennen ist, daß
die Einsicht der höchsten Staatsbeamten durch die
Abgeordneten einen Zuwachs erfahren könne
„vornehmlich in das Treiben der den Augen der
höheren Stellen fernerstehenden Beamten und
insbesondere in dringendere und speziellere Be-
dürfnisse und Mängel, die sie (die Abgeordneten)
in konkreter Anschauung vor sich haben, teils aber
in derjenigen Wirkung, welche die zu erwartende
Zensur vieler, und zwar eine öffentliche Zensur,
mit sich führt". Eine Gewährleistung für das
allgemeine Beste liegt auch nicht in dem guten
Willen der Stände, indem sie nur zu sehr ihre
Wirksamkeit für die Privatinteressen der von ihnen
vertretenen Sphären auf Kosten des allgemeinen
Interesses zu gebrauchen geneigt sind. Die Not-
wendigkeit von Ständeversammlungen im ent-
wickelten Staate liegt vielmehr darin begründet,
daß die „formelle Freiheit“ der vielen (nämlich der
politisch Mündigen) zum vollen Ausdruck komme
(a. a. O. 8§ 300/301). Soll sie zum vollen Aus-
druck kommen, so müssen die Ständeversamm-
lungen in zwei Kammern geteilt sein. Die erste
Kammer faßt in sich die gebildeten Gutsbesitzer,
die, auf unveräußerliche, mit dem Majorate be-
lastete Erbgüter sich stützend, wie von der Gunst
der Regierungsgewalt, so von der Gunst der
Menge unabhängig sind und nicht durch Zufällig-
keit der Wahl, sondern durch die Geburt zu einer
solchen politischen Tätigkeit berufen und berechtigt
sind. Die zweite Kammer befaßt in sich die dem
Bauern-, Gewerbe= oder Handelsstande ange-
hörigen beweglichen Elemente der bürgerlichen
Gesellschaft, die äußerlich wegen der Menge ihrer
Glieder, wesentlich aber wegen der Natur ihrer
Bestimmung und Beschäftigung nur durch Ab-
geordnete, die kraft ihrer Gesinnung und ihrer in
der Führung von „obrigkeitlichen und Staats-
ämtern“ erworbenen Kenntnisse hierzu geeignet
sind, diese Tätigkeit ausüben kann und nicht als
eine aus Atomen bestehende Masse, sondern als
eine in die ohnehin konstituierten Genossenschaften
und Gemeinden gegliederte Gesamtheit ihre Ab-
geordneten entsendet.
Das äußere Staatsrecht geht von dem Ver-
hältnis selbständiger Staaten aus; das an und
für sich Vernünftige erscheint hier lediglich als
Sollen, indem keine über ihnen stehende Gewalt
vorhanden ist, welche die Entscheidung gäbe, was
an sich recht ist, und diese Entscheidung vollzöge.
Die Abschließung völkerrechtlicher Verträge und
ihre Auslegung bleibt immer Sache der souveränen
Einzelstaaten und ihr Wohl das höchste Gesetz im
Verhalten zu andern, worauf selbst das „Gelten
der Traktate“ beruht; die Kantische Vorstellung
eines ewigen Friedens durch einen Staatenbund,
welcher jeden Streit schlichtete und als eine von
jedem Einzelstaate anerkannte Macht jede Miß-
helligkeit beilegte und damit die Entscheidung
durch Krieg unmöglich machte, setzt die Einstim-
mung der souveränen Staaten voraus und ist
Hegel.
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dadurch mit Zufälligkeit behaftet. Es ist hier
„kein Prätor vorhanden, der da schlichtet; der
höhere Prätor ist allein der allgemeine, an und
für sich seiende Geist, der Weltgeist". Die
staatenbildenden und selbst die hegemonisch ge-
wordenen Volksgeister sind nur endliche, ver-
gängliche Geister, an welchen der Weltgeist in der
Weltgeschichte als Weltgericht sein Recht ausübt;
sie stehen um dessen Thron als „Vollbringer seiner
Verwirklichung und als Zeugen und Zieraten seiner
Herrlichkeit“ (a. a. O. 8§§ 330/340, 352).
Die 2. und 3. Auflage der „Enzyklopädie“ von
1827 und 1830 beweisen, daß Hegel, der noch
1821 seinem Idealstaate manche freiheitliche Züge
beigemischt hatte, in den die deutschen Regierungen
beherrschenden Restaurationsgedanken mehr und
mehr sich befestigte. Die Feudalmonarchie galt ihm
daselbst nunmehr als konstitutionelle Monarchie;
nicht der unveränderliche Teil, nur der geringe ver-
änderliche Teil der Ausgaben kann der jährlichen
Bestimmung der Stände unterworfen werden,
welche „fälschlich den hochklingenden Namen der
Bewilligung des Budgets“ führt (Enzyklopädie
§* 544). Die Schwurgerichte werden nunmehr
verworfen, weil die Geschworenen nur mit subjek-
tiver, sog. moralischer Uberzeugung über den Tat-
bestand urteilen aus äußeren Umständen und Zeug-
nissen ohne Eingeständnis des Beklagten, also
nur mit „unvollständiger Gewißheit“ ihr Ver-
dikt fällen, was an barbarische Zeiten erinnert (ebd.
§* 531). Noch weiter ging Hegel in seiner der
Preußischen Staatszeitung einverleibten „Kritik
der englischen Reformbill“, 1831 (Werke XVII
425/473). Er gießt hier die Schale seines Zornes
und Tadels nicht bloß aus über verschiedene
Schattenseiten englischer Zustände, insbesondere
den Pomp und Lärm der formellen Freiheit im
Parlamente, die überreiche Geschwätzigkeit der
Parlamentsreden, die Bestechlichkeit bei Wahlen,
die Majoratsrechte und Gewaltsamkeit der Guts-
herren, den Druck der Zehnt= und Jagdrechte,
den weitschichtigen Wust des englischen Privat-
rechts, das Pfründenunwesen der anglikanischen
Kirche, die Beraubung und Mißhandlung Irlands;
er setzt auch das englische Verfassungsleben über
Gebühr herab, um eine Folie zu gewinnen für
die Verherrlichung der ins günstigste Licht ge-
stellten Rechtsinstitutionen Deutschlands und ins-
sondere Preußens.
4. Die Hegelschule bewegte sich in der vom
Meister eingeschlagenen Bahn, bis der in Bezug
auf religiöse Fragen eingetretene Zwiespalt sich
auch in politischer Hinsicht geltend machte, indem
die einen die vernünftige Wirklichkeit bereits für
fast erreicht hielten, die andern als erst zu er-
reichende hinstellten, die dritten endlich so oder
anders vermittelnd dazwischen traten. Einer mehr
oder minder konservativen Richtung im Sinne
des Meisters folgten schon vor dessen Tode oder
später E. Gans, welcher u. a. „Das Erbrecht in
weltgeschichtlicher Entwicklung“ (4 Bde, 1824/35)