Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

109 
mit den verschiedenen Eigenschaften der Frauen 
und Kinder, die gegenseitig sich als Rivalen hassen 
und beneiden lernen. Um die Streitigkeiten zu 
verhüten, wenden die einzelnen Stämme die ver- 
schiedensten Mittel an. So verteilen nach dem 
Berichte Dobrizhoffers die Abiponen ihre Frauen 
auf verschiedene, weit voneinander entfernte Woh- 
nungen. Bei den Kaffern haben die einzelnen 
Frauen jede ihre eigene Haushaltung (Ratzel). 
Die Betschuanas trennen die Hütten der Weiber 
noch durch besondere Querhecken (Fritsch). Einer 
Einführung der Polygamie durch die Mormonen 
haben sich die Amerikaner aufs schärfste widersetzt. 
Von den neueren Philosophen redete ihr nur 
Schopenhauer das Wort als der naturgemäßeren 
Art der Geschlechtsgemeinschaft. Aber ihn leitete 
dabei nur die Mißachtung des weiblichen Ge- 
schlechts, die ja allerdings in der Polygamie zum 
klarsten Ausdruck kommt. 
Die Monogamie, die als das naturgemäßeste 
eheliche Verhältnis vom Christentum vertreten und 
durchgeführt wird, entspricht allein einer gedeih- 
lichen Entwicklung der Familie. Es ist mindestens 
mißverständlich, wenn Gothein schreibt: Die Mo- 
nogamie „ist nicht, wie bei vielen Tiergattungen, 
eine ursprüngliche Anlage des Menschen, sondern 
eine Errungenschaft der Kultur“. Der Mensch hat 
es natürlich vielfach in seiner Gewalt, bewußter- 
weise die Form der Einehe zu brechen. Aber das 
ist noch kein Beweis dafür, daß die Einehe keine 
Anlage für die menschliche Natur sei. Das Ge- 
deihen der Familie und der Kultur überhaupt 
hängt vielmehr in weitestgehendem Maß von der 
Einehe ab. Und das zeigt doch zur Genüge, wie 
tief sie in der menschlichen Natur begründet ist. 
Die Reihenfolge der Formen der Familie aus 
dem wirtschaftlichen Zustand der Stämme und 
Völker zu erklären, wie es neuerdings Große in 
außerordentlich feiner Weise versucht hat, dürfte 
deshalb nicht zum Ziele führen, weil außer der 
Wirtschaft noch viele andere Faktoren die Formen 
der Familie bestimmen. Gewiß hat auf sie die 
wirtschaftliche Verfassung einen großen Einfluß, 
wie das Vorkommen der Vielmännerei gewöhnlich 
große Armut und Dürftigkeit voraussetzt, während 
Vielweiberei nur bei einem gewissen Grad von 
Luxus möglich ist. Wir können beobachten, wie 
mitten unter uns die Wohnungsnot oder die Ar- 
beitsbedingungen die Familien beeinflußt. Aber 
dann können wir auf wirtschaftlich ganz verschie- 
denen Stufen auch wieder dieselbe Familienform 
finden. Außerdem haben im Lauf der Geschichte 
gerade die religiösen Gedanken die größte Um- 
gestaltungskraft der Familienform bewiesen. Bei- 
spiele sind das Christentum, der Mohammedanis- 
mus, der Ahnenkult der ostasiatischen Völker. Nach 
dem Stand der Forschung gilt heute wiederum die 
monogame patriarchalische Familienverfassung als 
die ursprüngliche, aus der sich dann die andern 
Formen durch die verschiedensten Einflüsse heraus- 
gebildet haben. 
Familie. 
  
110 
Für unsere Verhältnisse ist besonders wichtig 
die Geschichte des römischen und des deutschen 
Familienrechts. Das römische Familienrecht cha- 
rakterisiert sich durch das starke, einseitige Hervor- 
treten der patria potestas. Diese schloß ursprüng- 
lich ein das Recht der freien Verfügung des Vaters 
auch durch Verkauf und Tötung sowohl über die 
eigenen Kinder als auch über die Kinder seiner 
Söhne, sofern diese noch nicht davon frei waren. 
Über die Ehefrau gewährte die patria potestas 
ein Eigentumsrecht gleich dem über die üllia fa- 
milias, also dasselbe Recht, wie es der Vater über 
die unter seiner Gewalt stehende Tochter hatte. 
Die Rechte der Mutter an den Kindern waren 
vollständig unterdrückt. Der Träger der patria. 
potestas war nach dem Tode des Vaters daher 
nicht die Mutter, sondern der nächste Agnat oder 
ein besonders bestellter Vormund, ohne dessen Zu- 
stimmung sie nicht einmal ein Testament machen 
konnte. Nur die Frauen, die eine Mitgift mit- 
brachten, hatten hierin etwas mehr Recht. Ihre 
Mitgift mußte im Fall der Trennung der Ehe an 
sie oder ihre Erben zurückfallen. Die vermögens- 
rechtliche Persönlichkeit der Frau und der Kinder 
ging während der Dauer der Ehe und der Vater- 
gewalt ganz in der des Mannes und des Vaters 
auf. Alles Vermögen der Frau fiel unter das 
Dominium des Mannes; aller Erwerb der Kin- 
der, welcher Art nur immer, gehörte dem Vater. 
Eine Befreiung aus der Vatergewalt erfolgte für 
die Kinder durch Emanzipation von seiten des 
Vaters oder durch ihre Verheiratung mit seiner 
ausdrücklichen Einwilligung oder nach dreimaligem 
Verkauf. 
Während ursprünglich das römische Familien- 
leben durch seine Einfachheit und Sittenstrenge 
verhältnismäßig hoch stand, wirkte die wachsende 
Sittenlosigkeit der Kaiserzeit rasch zerstörend ge- 
rade auf die Familie. Der infolgedessen über- 
handnehmenden Abnahme der Bevölkerung suchte 
der römische Staat durch die beiden Gesetze Lex 
Lulia Poppaea und Lex Papia Poppaea (4 und 
9n. Chr.) abzuhelfsen. Die Ehelosigkeit wurde ver- 
boten, die Unfruchtbarkeit der Ehen mit Strafen 
belegt, die Fruchtbarkeit dagegen belohnt. Die 
Mutter von drei Kindern, die von freien Eltern 
stammten, wurde von der Vormundschaft befreit, 
ebenso die freigelassene Mutter, die vier Kinder 
geboren hatte. Vermögensrechtlich trat ebenfalls in 
dieser Zeit für die Söhne eine Erleichterung gegen- 
über dem alten Recht ein. Während es bisher kein 
eigenes Vermögen der Kinder gab, sondern der 
Vater nur ein ihm eigenes Gut den Söhnen zur 
selbständigen Verwaltung nach Gutdünken über- 
ließ (peculium profectitium), konnte jetzt alles, 
was der Sohn in seiner Eigenschaft als Soldat 
erwarb, sein freies Eigentum werden (peculium 
castrense). Dadurch sollte die verweichlichte 
Jugend wieder zum Kriegsdienst angetrieben wer- 
den. Über die bona castrensia durften die Söhne 
auch letztwillig verfügen in der Art. daß sie den
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.