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mehr oder minder unvollkommenen Erscheinung
und Geltung bringt. Insofern ist das bekannte
Wort gesprochen worden: „Was vernünftig ist,
das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist ver-
nünftig.“ Der Sinn dieses Satzes ist ein Doppel-
sinn, indem die Vernünftigkeit und Wirklichkeit
bald im höheren idealen Sinne genommen wird
und bald im niederen empirischen Sinne, indem
sie bald im absoluten Sinne gefaßt wird als die
in der Weltgeschichte sich offenbarende wahrhafte
oder göttliche Vernünftigkeit und Wirklichkeit,
bald im relativen Sinne als diese oder jene em-
pirische Wirklichkeit, welcher nur ein Recht zu-
kommt, solange sie nicht zu einer Schattengestalt
herabgesetzt wird im fortschreitenden Prozesse der
Weltgeschichte. Die Philosophie hat somit auch
keinen Idealstaat zu konstruieren, keinen Staat,
wie er sein soll; das, was ist, zu begreifen, das
ist ihre Aufgabe. Wie jedes Individuum der
Sohn seiner Zeit ist, so ist auch die Philosophie
„ihre Zeit in Gedanken gefaßt". Es ist ebenso
töricht, zu wähnen, irgend eine Philosophie gehe
über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als: ein In-
dividuum überspringe seine Zeit, springe über
Rhodus hinaus. Zum Belehren, wie die Welt sein
soll, kommt ohnehin die Philosophie immer zu spät.
Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der
Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß
vollendet und fertig gemacht hat (Philos. des Rechts,
Vorrede, Werke VIII2 18/20; Enzyklopädie § 6).
In dieser Polemik gegen ein ideales Natur-
recht, welches als Norm der Beurteilung an das
positive Recht und den wirklichen Staat angelegt
werden könnte und eine von ihnen unabhängige
Geltung hätte, berührt sich Hegel mit der histori-
schen Rechtsschule. Da der Staat „als Geist
eines Volkes zugleich das alle seine Verhältnisse
durchdringende Gesetz der Sitte und das Bewußt-
sein seiner Individuen“ ist, so hängt die Ver-
fassung eines bestimmten Volkes überhaupt von
der Weise und Bildung des Selbstbewußtseins
desselben ab, so daß es töricht wäre, ihm a priori
eine solche vorschreiben zu wollen (Rechtsphilo-
sophie § 274); insoweit steht Hegel völlig im
Einklang mit dem Hauptbegründer der historischen
Rechtsschule, mit dem gelehrten Savigny. Während
aber letzterer eine durch die christliche Lebensansicht
repräsentierte höhere sittliche Ordnung anerkennt,
die über dem positiven Rechte steht und ihre Aus-
prägung und Ausgestaltung durch dasselbe er-
fahren soll (System des heutigen römischen
Rechts I [1840] 52/54), verwirft Hegel nicht
bloß ein solch ideales Naturrecht oder Normal-
recht im juristischen, sondern auch im ethischen
Sinne. Ferner tritt Hegel seiner ganzen Ge-
dankenrichtung zufolge Savigny gegenüber für eine
Kodifikation und Systematisierung des im Volke
lebenden positiven Gewohnheitsrechts ein. Einer
gebildeten Nation und dem juristischen Stande
den Beruf und die Fähigkeit absprechen, ein
Gesetzbuch zu machen, heißt ihnen einen Schimpf
Hegel.
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antun. Die Sonne und die Planeten haben
auch ihre Gesetze, aber sie wissen sie nicht; Bar-
baren werden durch Triebe, Sitten, Gefühle
regiert, aber sie haben kein Bewußtsein davon;
einer gebildeten Nation und dem juristischen
Stande ist dagegen recht eigentlich die Aufgabe
beschieden, das im Volke lebende Gewohnheits-
recht denkend zu erfassen und zu systematisieren
(Philos. des Rechts § 211).
Aus dem pantheistischen Grundgedanken He-
gels, daß der Staat „der wirkliche Gott“, „die
sich wissende sittliche Wirklichkeit des Geistes“
sei, ergibt sich als weiterer Irrtum die Lehre von
der Omnipotenz des Staates. Der Staat ist
das Eins und das Alles im Reiche des Geistes,
soweit letzterer nicht ein bloß innerliches Leben
führt, sondern sich äußerlich manifestiert und zur
Erscheinung bringt. Soweit er will und soweit
er kann, ist er der Herr und der Herrscher in
dieser Welt und Zeitsphäre, der sichtbare Gott
auf Erden. Alles geht in ihm auf und ist seiner
Domäne unterworfen: die Privatpersonen, die
Familie, die bürgerliche, sittliche und religiöse
Ordnung, Kunst und Wissenschaft. Der Orga-
nismus des persönlichen Einzellebens, des Fa-
milienlebens wie des sozialen, sittlichen, religiös-
kirchlichen, künstlerischen und wissenschaftlichen
Vereinslebens sind in den Allorganismus des
Staates verbunden und sind von ihm verschlungen,
anstatt daß sie relativ unterschiedene und sich
wechselseitig ergänzende und durchdringende Teil-
organismen eines Gesamtorganismus wären. Die
Rechte der Einzelpersönlichkeit, der Willensfreiheit,
Sittlichkeit, Religion gelten zwar als unveräußer-
liche und unverjährbare Rechte, so daß ihre Ent-
äußerung in der Sklaverei, Leibeigenschaft, Un-
fähigkeit des Eigentumsbesitzes, in der Verdingung
zur Begehung eines Verbrechens, in der Preis-
gebung eigener religiöser Überzeugung usw. stets
zurückgenommen werden kann (a. a. O. 8§ 57, 66);
aber eine sittliche Idee, in welcher die „einzelne
Persönlichkeit untergegangen und die deren wirk-
liche Macht ist“, hat ein Recht auf diese Per-
sönlichkeit und ihr äußeres Dasein, das Leben
(a. a. O. § 70), und das subjektive Gewissen des
einzelnen, die subjektive Uberzeugung dessen, was
Recht und Pflicht sei, ist unterworfen dem öffent-
lichen Gewissen, das sich ausspricht durch die
„Gesetze und Grundsätze“ des Staates; „der
Staat kann deswegen das Gewissen in seiner
eigentümlichen Form, d. i. als subjektives Wissen,
nicht anerkennen, so wenig als in der Wissenschaft
die subjektive Meinung, die Versicherung und Be-
rufung auf eine subjektive Meinung eine Gültigkeit
hat“ (a. a. O. 8§ 137, 270). Alle wahre Sittlich-
keit geht sofort im Staate auf, es gibt nur staat-
liches Ethos; „eine immanente und konsequente
Pflichtenlehre kann nichts anderes sein als die Ent-
wicklung der Verhältnisse, die durch die Idee der
Freiheit notwendig und daher wirklich in ihrem
ganzen Umfange im Staat sind“ (a. a. O. 8 148).