Full text: Staatslexikon. Zweiter Band: Eltern bis Kant. (2)

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mehr oder minder unvollkommenen Erscheinung 
und Geltung bringt. Insofern ist das bekannte 
Wort gesprochen worden: „Was vernünftig ist, 
das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist ver- 
nünftig.“ Der Sinn dieses Satzes ist ein Doppel- 
sinn, indem die Vernünftigkeit und Wirklichkeit 
bald im höheren idealen Sinne genommen wird 
und bald im niederen empirischen Sinne, indem 
sie bald im absoluten Sinne gefaßt wird als die 
in der Weltgeschichte sich offenbarende wahrhafte 
oder göttliche Vernünftigkeit und Wirklichkeit, 
bald im relativen Sinne als diese oder jene em- 
pirische Wirklichkeit, welcher nur ein Recht zu- 
kommt, solange sie nicht zu einer Schattengestalt 
herabgesetzt wird im fortschreitenden Prozesse der 
Weltgeschichte. Die Philosophie hat somit auch 
keinen Idealstaat zu konstruieren, keinen Staat, 
wie er sein soll; das, was ist, zu begreifen, das 
ist ihre Aufgabe. Wie jedes Individuum der 
Sohn seiner Zeit ist, so ist auch die Philosophie 
„ihre Zeit in Gedanken gefaßt". Es ist ebenso 
töricht, zu wähnen, irgend eine Philosophie gehe 
über ihre gegenwärtige Welt hinaus, als: ein In- 
dividuum überspringe seine Zeit, springe über 
Rhodus hinaus. Zum Belehren, wie die Welt sein 
soll, kommt ohnehin die Philosophie immer zu spät. 
Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der 
Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß 
vollendet und fertig gemacht hat (Philos. des Rechts, 
Vorrede, Werke VIII2 18/20; Enzyklopädie § 6). 
In dieser Polemik gegen ein ideales Natur- 
recht, welches als Norm der Beurteilung an das 
positive Recht und den wirklichen Staat angelegt 
werden könnte und eine von ihnen unabhängige 
Geltung hätte, berührt sich Hegel mit der histori- 
schen Rechtsschule. Da der Staat „als Geist 
eines Volkes zugleich das alle seine Verhältnisse 
durchdringende Gesetz der Sitte und das Bewußt- 
sein seiner Individuen“ ist, so hängt die Ver- 
fassung eines bestimmten Volkes überhaupt von 
der Weise und Bildung des Selbstbewußtseins 
desselben ab, so daß es töricht wäre, ihm a priori 
eine solche vorschreiben zu wollen (Rechtsphilo- 
sophie § 274); insoweit steht Hegel völlig im 
Einklang mit dem Hauptbegründer der historischen 
Rechtsschule, mit dem gelehrten Savigny. Während 
aber letzterer eine durch die christliche Lebensansicht 
repräsentierte höhere sittliche Ordnung anerkennt, 
die über dem positiven Rechte steht und ihre Aus- 
prägung und Ausgestaltung durch dasselbe er- 
fahren soll (System des heutigen römischen 
Rechts I [1840] 52/54), verwirft Hegel nicht 
bloß ein solch ideales Naturrecht oder Normal- 
recht im juristischen, sondern auch im ethischen 
Sinne. Ferner tritt Hegel seiner ganzen Ge- 
dankenrichtung zufolge Savigny gegenüber für eine 
Kodifikation und Systematisierung des im Volke 
lebenden positiven Gewohnheitsrechts ein. Einer 
gebildeten Nation und dem juristischen Stande 
den Beruf und die Fähigkeit absprechen, ein 
Gesetzbuch zu machen, heißt ihnen einen Schimpf 
Hegel. 
  
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antun. Die Sonne und die Planeten haben 
auch ihre Gesetze, aber sie wissen sie nicht; Bar- 
baren werden durch Triebe, Sitten, Gefühle 
regiert, aber sie haben kein Bewußtsein davon; 
einer gebildeten Nation und dem juristischen 
Stande ist dagegen recht eigentlich die Aufgabe 
beschieden, das im Volke lebende Gewohnheits- 
recht denkend zu erfassen und zu systematisieren 
(Philos. des Rechts § 211). 
Aus dem pantheistischen Grundgedanken He- 
gels, daß der Staat „der wirkliche Gott“, „die 
sich wissende sittliche Wirklichkeit des Geistes“ 
sei, ergibt sich als weiterer Irrtum die Lehre von 
der Omnipotenz des Staates. Der Staat ist 
das Eins und das Alles im Reiche des Geistes, 
soweit letzterer nicht ein bloß innerliches Leben 
führt, sondern sich äußerlich manifestiert und zur 
Erscheinung bringt. Soweit er will und soweit 
er kann, ist er der Herr und der Herrscher in 
dieser Welt und Zeitsphäre, der sichtbare Gott 
auf Erden. Alles geht in ihm auf und ist seiner 
Domäne unterworfen: die Privatpersonen, die 
Familie, die bürgerliche, sittliche und religiöse 
Ordnung, Kunst und Wissenschaft. Der Orga- 
nismus des persönlichen Einzellebens, des Fa- 
milienlebens wie des sozialen, sittlichen, religiös- 
kirchlichen, künstlerischen und wissenschaftlichen 
Vereinslebens sind in den Allorganismus des 
Staates verbunden und sind von ihm verschlungen, 
anstatt daß sie relativ unterschiedene und sich 
wechselseitig ergänzende und durchdringende Teil- 
organismen eines Gesamtorganismus wären. Die 
Rechte der Einzelpersönlichkeit, der Willensfreiheit, 
Sittlichkeit, Religion gelten zwar als unveräußer- 
liche und unverjährbare Rechte, so daß ihre Ent- 
äußerung in der Sklaverei, Leibeigenschaft, Un- 
fähigkeit des Eigentumsbesitzes, in der Verdingung 
zur Begehung eines Verbrechens, in der Preis- 
gebung eigener religiöser Überzeugung usw. stets 
zurückgenommen werden kann (a. a. O. 8§ 57, 66); 
aber eine sittliche Idee, in welcher die „einzelne 
Persönlichkeit untergegangen und die deren wirk- 
liche Macht ist“, hat ein Recht auf diese Per- 
sönlichkeit und ihr äußeres Dasein, das Leben 
(a. a. O. § 70), und das subjektive Gewissen des 
einzelnen, die subjektive Uberzeugung dessen, was 
Recht und Pflicht sei, ist unterworfen dem öffent- 
lichen Gewissen, das sich ausspricht durch die 
„Gesetze und Grundsätze“ des Staates; „der 
Staat kann deswegen das Gewissen in seiner 
eigentümlichen Form, d. i. als subjektives Wissen, 
nicht anerkennen, so wenig als in der Wissenschaft 
die subjektive Meinung, die Versicherung und Be- 
rufung auf eine subjektive Meinung eine Gültigkeit 
hat“ (a. a. O. 8§ 137, 270). Alle wahre Sittlich- 
keit geht sofort im Staate auf, es gibt nur staat- 
liches Ethos; „eine immanente und konsequente 
Pflichtenlehre kann nichts anderes sein als die Ent- 
wicklung der Verhältnisse, die durch die Idee der 
Freiheit notwendig und daher wirklich in ihrem 
ganzen Umfange im Staat sind“ (a. a. O. 8 148).
	        
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