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und Vöhl, einen Teil des Kreises Gießen, den
Ort Rödelheim und den Anteil von Nieder-Ursel,
im ganzen 740 aqkm, abtreten. Dafür erhielt es
als schwachen Ersatz die kurhessischen Orte Ohmes,
Vockenrod, Ruhlkirchen, Seibelsdorf, Nauheim
mit der Saline, Dorheim, Schwalheim, Nödgen,
Treis an der Lumda, Massenheim, Rumpenheim
und den kurhessischen Teil von Mittel-Gründau,
die nassauischen Orte Reichelsheim, Dorn-Assen-
heim, Harheim und die frankfurtischen Orte
Dortelweil und Nieder-Erlenbach. Der Eintritt
in den Norddeutschen Bund (für Oberhessen), der
Abschluß einer Militärkonvention und eines Post-
vertrages mit Preußen waren die weiteren Ergeb-
nisse des Feldzuges. Die Jahre 1870/71, welche
die Hessen (25. Division, 2. Armee) an Preußens
Seite sahen, brachten den Eintritt in das Deutsche
Reich durch den Versailler Vertrag vom 15. Nov.
1870. Das nationalliberale Ministerium Hof-
mann (seit 1871) und später v. Starck (bis 1884)
ahmte den in Preußen begonnenen Kulturkampf
sofort nach und brachte 1875 die sog. Kirchen-
gesetze in der Kammer zur Annahme. Nach dem
Tode Ludwigs III. (13. Juni 1877) bestieg sein
Neffe Ludwig IV. den Thron; unter ihm wurden
(1887 und 1889) der katholischen Kirche Hessens
einige Erleichterungen gewährt. Ludwig IV. folgte
am 13. März 1892 sein Sohn Ernst Ludwig (geb.
25. Nov. 1868). «
2. Bevölkerung; Erwerbsverhältnisse.
Hessen besteht aus zwei getrennten Hauptteilen:
Oberhessen (43% der Fläche) und Rheinhessen
(17% ) nebst Starkenburg (40% ) und ist mit
7688,8 qkm und mit (1905) 1209 175 Ein-
wohnern (157,3, im Jahre 1871: 111 anf 1 qkm)
der siebte Staat des Deutschen Reiches. Die Volks-
zahl betrug 1817: 601. 000, 1855: 802000,
1885: 956000, 1900: 1118 979 Seelen. Die
Bevölkerungszunahme 1871/1905beträgt 41, 8%
die von 1900/05: 8%. Dem Bekenntnis nach
waren 1905: 803 195 Evangelische, 372894
Katholiken, 24 696 Juden; auf 1000 Einwohner
kamen 664,3 (1871: 685,2) Evangelische, 308,4
(1871: 280,3) Katholiken, 20,4 (1871: 29.7)
Juden. Nach der Berufszählung von 1907
widmeten sich: 341 899 (1882: 386 360) der
Landwirtschaft, 542 371 (339 809) der Industrie
und dem Bauwesen, 168 851 (98 631) dem Han-
del und Verkehr, 78 300 (54 730) dem öffent-
lichen Dienste und freien Berufen, 9681 (14895)
verrichteten wechselnde Lohnarbeit und häusliche
Dienste, 94721 (35 332) waren ohne Berufe und
Berufsangabe. — Die Bevölkerung verteilt sich
auf etwa 920 Landgemeinden und 66 Städte,
darunter 10 größere Stadtgemeinden; von den
letzteren zählte (1905): Darmstadt 83 123. Mainz
(mit Kastel und Mombach) 106 338, Offenbach
(mit Bürgel) 65 372, Worms (mit Vororten)
43841 und Gießen 28 769 Einwohner.
Von der Gesamtfläche entfallen auf Acker- und
Gartenland 48,9, auf Weinberge 1,8, auf Wiesen
Hessen.
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12,3, auf Weiden 0,8 und auf Wald 31,2%.
Ein sehr bedeutender Erwerbszweig ist immer noch
der Ackerbau. Hessen gehört zu den obstreichsten
Ländern Europas; der Weinbau liefert zum Teil
hochfeine Sorten. Der Tabakbau wird besonders
in den Kreisen Bensheim und Heppenheim be-
trieben. An Vieh zählte man 1907: 61 696
Pferde, 331 384 Stück Rindvieh, 64 905 Schafe,
384 593 Schweine und 132 260 Ziegen. — Mi-
neralien finden sich in Oberhessen, wo auf Eisen,
Salz und Braunkohlen gebaut wird. — Hochent-
wickelt ist die Industrie, deren Hauptsitze Mainz.
und Offenbach sind. Neben einer bedeutenden
Eisen= und Maschinenindustrie ist nennenswert
die Fabrikation von Leder-(Mainz, Worms,
Offenbach), Schuh= (Mainz) und Portefeuille-
waren (Offenbach), die chemische Industrie in
Darmstadt (pharmazeutische Präparate), Offenbach
(Aniline) und Worms (Soda), sowie die Möbel-
und Wagenfabrikation in Mainz. Die hervor-
ragende Tabakindustrie hat ihren Sitz namentlich
in Gießen, in der Umgegend von Offenbach und
in den Kreisen Bensheim und Heppenheim. —
Mittelpunkt des ansehnlichen Handels ist Mainz,
Reichsbankstellen befinden sich in Mainz und in
Darmstadt. Die wichtigsten Banken sind die Bank
für Süddeutschland (Darmstadt) und die Bank
für Handel und Industrie (sog. Darmstädter
Bank). Ende 190é6 bestanden 1430 km Eisen-
bahnen, davon 1334 km Staatsbahnen (preußisch-
hessische Eisenbayngemeinschaft).
3. Verfassung; Verwaltung. Hessen ist
eine konstitutionelle Monarchie nach der Verfas-
sung vom 17. Dez. 1820, die am 8. Nov. 1872
abgeändert wurde. Der Thron ist erblich nach
dem Rechte der Erstgeburt und Linealsukzession
im männlichen und nach dessen Erlöschen im weib-
lichen Stamme des Hauses Hessen. Die Herrscher
gehören der evangelischen Kirche an und nennen
sich seit dem 7. Juli 1816 Großherzoge von Hessen
und bei Rhein, Königliche Hoheit. Die Nach-
gebornen führen den Titel Prinz und Prinzessin
von Hessen und bei Rhein mit dem Prädikate
Großherzogliche Hoheit. — Die Landstände, welche
alljährlich zu „Landtagen“ zusammentreten, be-
stehen aus zwei Kammern. Die Landstände besitzen
das Steuerbewilligungs= und Budgetrecht sowie
das Recht der Gesetzgebung; sie sind befugt, bei
dem Landesherrn Beschwerde zu führen, nament-
lich über das Verhalten der Staatsbehörden, und
Wünsche jeder Art vorzutragen. Die Erste Kam-
mer besteht aus den großjährigen Prinzen, den
Häuptern der standesherrlichen Familien, dem
Senior der freiherrlichen Familie v. Riedesel, dem
katholischen Landesbischof oder seinem Stellver-
treter, einem vom Großherzog auf Lebenszeit er-
nannten evangelischen Prälaten, dem Kanzler der
Landesuniversität, aus 2 Vertretern des grund-
besitzenden Adels und aus höchstens 12 vom Groß-
herzog auf Lebenszeit berufenen Mitgliedern. Den
ersten Präsidenten ernennt der Großherzog, die